Im Zweifel für den Angeklagten
Eine Kurzgeschichte von Zischup-Schülerin Jana Forster.
Jana Forster, Klasse 10a, Grimmelshausen-Gymnasium (Offenburg)
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Das Gericht konnte seine Schuld nicht beweisen, aber ein Gedanke lässt mich nicht los: Was, wenn das Gericht sich irrt? Das Gutachten hat eindeutig belegt, dass er zu einem Mord fähig wäre, er hat ein Motiv, kein Alibi und wurde am Tag vor der Tat noch zusammen mit der Toten gesehen. Die Schilderungen der Familie haben mich auch getroffen. Ich konnte tagelang nichts essen. Mein Mandant ein Mörder und ich derjenige, der für seinen Freispruch sorgen sollte.
Er sah ihnen niemals in die Augen, ebenso wenig wie mir oder irgendjemandem sonst. Saß einfach nur da, als wartete er auf sein Urteil. Das war vermutlich auch der Moment gewesen, in dem ich selbst beschlossen hatte, dass er schuldig sein musste. Ein Unschuldiger hätte niemals so dagesessen: Den Blick starr nach unten gerichtet, mit einem bitteren Ausdruck auf dem Gesicht und keiner Regung, als die Staatsanwaltschaft den Tathergang schilderte.
Nicht nur einmal habe ich während des Prozesses daran gedacht, mein Mandat niederzulegen. Was nutzt ein Verteidiger, der selbst von der Schuld seines Mandanten überzeugt ist und ihm nicht einmal in die Augen sehen kann? Zeit genug für meine Entscheidung hatte ich jedenfalls, seit dem Tod der jungen Frau sind fast neun Monate vergangen.
Gegangen bin ich trotzdem nicht, auch wenn ich oft kurz davorstand. Aber ein Mörder verdient ebenso Gerechtigkeit wie jeder andere auch. Wenn man mich früher gefragt hätte, ob ich einen Mörder verteidigen würde, wäre mir die Antwort leichtgefallen: Natürlich, wieso nicht? Heute sehe ich das anders. Komplett anders. "Du verteidigst einen Mörder", sagte ich immer wieder zu mir. "Du versuchst der ganzen Welt weiszumachen, dass er unschuldig ist, obwohl du es selbst nicht glaubst."
Wieder halte ich inne, um den Ordner noch ein letztes Mal aufzuschlagen. Ich kenne die Unterlagen in- und auswendig, aber dennoch... dennoch lese ich sie seit gestern Abend wieder durch. Es ist wie ein innerer Zwang, vielleicht die Angst davor, doch etwas übersehen zu haben. Vermutlich sollte ich die Akten einfach wegschließen und vergessen. Das Urteil ist gesprochen, mein Mandant ist frei und eigentlich wäre es angebracht, mich selbst dafür zu beglückwünschen. Doch ich kann es nicht. Es ist ein Sieg vor Gericht, aber komischerweise fühlt es sich an wie eine Niederlage. Mein Mandant, der Mörder, wurde freigesprochen. Und ich habe dafür die Höchststrafe bekommen: lebenslange Vorwürfe.
Immer wieder wandern meine Gedanken zurück zu meinem Mandanten und der Familie der Toten, die das Urteil vermutlich noch weniger nachvollziehen kann als ich. Er war der einzige Verdächtige. Der Mordfall wird schon bald in irgendeinem staubigen Regal landen, bei all den anderen ungelösten Morden aus den letzten zwanzig Jahren, und die Angehörigen werden sich ihr Leben lang fragen, ob der Mörder immer noch da draußen irgendwo frei herumläuft. Der Gedanke widert mich an, aber gleichzeitig fasziniert er mich auch. Am liebsten hätte ich meinen Mandanten höchstpersönlich schuldig gesprochen, als ich sein selbstzufriedenes Gesicht gesehen habe, nachdem die erste Verwunderung verschwunden ist.
In Filmen kommt es manchmal vor, dass ein Täter seinem Anwalt den Mord gesteht, aber der Anwalt ihn trotzdem weiter verteidigt. Mein Mandant hat auch mir gegenüber geschwiegen. Nicht einmal seine Unschuld beteuert hat er, was ihn in meinen Augen noch schuldiger macht. Doch obwohl ich mir selbst schon so lang ein Urteil gebildet habe, Fragen habe ich trotzdem noch. Unzählige, um genau zu sein. Sie schwirren mir durch den Kopf wie lästige Fliegen und halten mich von aller Arbeit ab. Nicht einmal nachts lassen sie mir Ruhe und quälen mich hinter geschlossenen Augenlidern.
Drei Tage nach der Verkündigung des Urteils stehe ich vor dem Haus meines Mandanten, die Hände tief in den Jackentaschen. Es ist ein kalter Tag, und der Wind wirbelt trockene Blätter durch die Luft, als ich den gepflegten Gartenweg entlanglaufe. Ich kann ihn nicht zwingen, mir Antworten zu geben, aber ich ertrage es einfach nicht länger. Die Unwissenheit hat mir in den vergangenen 72 Stunden zugesetzt, sodass ich mich irgendwann einfach ins Auto gesetzt habe. Eine halbe Stunde später habe ich erst gemerkt, was ich vorhabe, aber umgekehrt bin ich trotzdem nicht. Ich wollte nicht noch eine vierte Nacht lang wach liegen und mir den Kopf über Schuld oder Unschuld meines Mandanten zerbrechen. Ich ertrug es einfach nicht länger.
Als die Tür sich nach meinem Klopfen einen Spaltbreit öffnet, beschleicht mich sofort ein ungutes Gefühl. Ich sollte nicht hier sein, vielleicht hätte ich die Wahrheit einfach ruhen lassen sollen. Es ist nicht mein Mandant, der mir entgegen blinzelt, es ist eine Frau, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Sie wirkt misstrauisch. "Was wollen sie?", fragt sie leise. "Ich bin der Anwalt", sage ich. "Ich würde gern mit meinem Mandanten sprechen."
Irgendetwas stimmt nicht. Eigentlich will ich ihre Antwort gar nicht hören, aber dennoch bleibe ich. Ich stehe da wie angewurzelt, unfähig, auch nur einen Schritt zu machen. Ich habe in den vergangenen Jahren als Anwalt viel erlebt, aber nichts hätte mich auf ihre Worte vorbereiten können: "Er ist tot, schon seit gestern. Er hat Selbstmord begangen."
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