Zischup-Interview

"Man kann sagen, dass das Glück uns hold war"

Felix Rottberger (86) ist Jude. Seine Familie hat während des Zweiten Weltkriegs in Dänemark Zuflucht gesucht. Darüber spricht er im Interview mit seinem Enkel Felix.  

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Felix Rottberger hat 2016 das Bundesve...lärungsarbeit als Zeitzeuge erhalten.   | Foto: Thomas Kunz
Felix Rottberger hat 2016 das Bundesverdienstkreuz für seine Aufklärungsarbeit als Zeitzeuge erhalten. Foto: Thomas Kunz
Zischup: Wo bist du aufgewachsen?

Rottberger: Ich bin am 16. September 1936 in Reykjavik, der Hauptstadt von Island, geboren worden. Ich bin der erste Jude, der auf Island geboren wurde – Island gibt es schon seit rund 1400 Jahren.

Zischup: Habt ihr gut auf Island gelebt?

Rottberger: Nein, weil sie uns schon ein halbes Jahr später verhafteten und im März 1938 nach Deutschland zurückschickten – und sie wussten, was mit den Juden in Deutschland passiert. Das Jahr 1938 war das Jahr der Reichspogromnacht am 9. November, in der alle rund 1500 Synagogen in Deutschland und Österreich in Brand gesteckt, viele Juden getötet und die Männer nach Dachau verschleppt wurden. Dachau ist in der Nähe von München. Dort war eines der Konzentrationslager, wohin Juden verschleppt und wo sie getötet wurden.

Zischup: Wurdet ihr auch nach Deutschland verschleppt?

Rottberger: Wir hatten Glück, dass meine Schwester und ich von einem dänischen Au-pair-Mädchen beaufsichtigt wurden, weil meine Eltern arbeiten mussten. Dieses Mädchen hat bitterlich geweint, als wir verhaftet wurden, da sie auch wusste, dass die Reise zurück nach Deutschland die Reise in den Tod wäre. Kurz vor der Abfahrt gab sie meinem Vater einen Zettel und sagte: "Das ist die einzige Rettung, um euch vor dem Tod zu bewahren. Ihr müsst mit dieser dänischen Familie Kontakt aufnehmen." Man kann sagen, dass das Glück uns hold war, da Island unter dänischer Staatsflagge stand, das heißt, alle Schiffe, die ins Ausland gehen, müssen zuerst in Kopenhagen festmachen. Unsere Eltern haben den deutschen Kapitän angebettelt, uns zur deutschen Botschaft in Kopenhagen zu bringen. Zuerst hat er dies verweigert, doch als er uns kleine Kinder sah, hatte er Mitleid und wir wurden zur deutschen Botschaft gebracht.

Zischup: Wie war es dann in der deutschen Botschaft. Habt ihr versucht, die dänische Familie zu kontaktieren?

Rottberger: Ja, als wir vor dem Botschafter standen, haben wir gefragt, ob wir diese dänische Nummer anrufen können, die auf dem Zettel stand. Dies lehnte er jedoch ab, wir sollten weiter nach Deutschland verschifft werden. Daraufhin fiel meine Mutter in Ohnmacht. Die Diplomatinnen und Diplomaten wussten nicht, was sie mit uns anstellen sollten, da die Dänen gegen Hitler waren. Doch Hitler brauchte Dänemark, weil es mit Nahrungsquelle der Nazis war, und die Deutschen hatten Angst, dass es zu viel Aufruhr in Dänemark geben könnte, wenn meine Mutter mit einem Krankenwagen zurück zum Schiff gebracht worden wäre. Diese Ohnmacht hat sozusagen den Botschafter überzeugt, diese dänische Nummer anzurufen. Die dänische Nummer, der ich unser Leben verdanke, von der ich aber nicht weiß, wer dies war, hat für uns eine Bürgschaft übernommen und wir durften in Dänemark bleiben.

Zischup: Wie ging es euch in Dänemark?

Rottberger: Wir waren frei, wir konnten tun und machen, bis Dänemark auch von den Nazis besetzt wurde.

Zischup: Was ist dann passiert?

Rottberger: Die Judenverfolgung ging auch in Dänemark los, vor allen gegen deutsche Juden. Daraufhin sind wir 17 Mal umgezogen, aus Angst sie würden uns finden. Zwei Jahre später hatten wir keine Bleibe mehr, wir waren inzwischen vier Kinder. Tagsüber sind wir durch die Wälder gehuscht und nur nachts haben wir an Jugendherbergen haltgemacht, da in Skandinavien damals fast alle groß, blond und blauäugig waren und wir in der Menge aufgefallen wären.

Zischup: Wurdet ihr mal erwischt?

Rottberger: Nein. Hitler ging in Dänemark vorsichtiger vor, um die Juden zu fangen. Er gab den Besatzern den Befehl, die Juden aus den Wohnungen zu holen und sie in das Konzentrationslager Theresienstadt zu bringen, aber ohne Gewalt. Das heißt, wenn niemand aufgemacht hat, durften sie die Tür nicht aufbrechen und sind weitergegangen. Am 29. August 1943 gab es eine Schießerei in Kopenhagen, bei der ein dänischer Junge angeschossen wurde. Das motivierte den Großteil der Bevölkerung Dänemarks, sich zu organisieren, um die Juden in Sicherheit zu bringen. Jugendliche fingen auch an, zuerst unorganisiert später organisiert Hitler "einen Streich" zu spielen, indem sie jüdische Familien versteckten.

Zischup: Wurdet ihr auch versteckt?

Rottberger: Nein, wir waren nur auf der Flucht. Aber im Oktober 1943 geschah ein Wunder, da wurde zwischen Schweden und Dänemark eine Vereinbarung getroffen, was so wichtig war, da Schweden und die Schweiz die einzigen europäischen neutralen Länder im Zweiten Weltkrieg waren. Sie vereinbarten, dass Juden problemlos nach Schweden einreisen können. Meine Familie wurde eines Abends mit einem Taxi etwa 50 Kilometer entfernt, nördlich von Kopenhagen, an einen Strand gebracht. Dort waren viele Juden, die auf die Überfahrt warteten.



Zischup: Habt ihr die Überfahrt geschafft?

Rottberger: Halbwegs. Zuerst gingen meine Eltern auf das Schiff, doch als wir vier Kinder einsteigen wollten, verweigerte der Steuermann dies und sagte: "Nichts da, ich nehme keine Kinder mit", und er fuhr los. Wir vier standen schockiert am Strand und sahen hinterher, wie unsere Eltern wegfuhren. Doch dann sagte jemand: "Ihr kommt mit einem anderen Schiff nach Schweden." Doch dieses Schiff kam nie.

Zischup: Was ist danach geschehen?

Rottberger: Wir vier wurden zunächst in einer Strandhütte untergebracht und von lieben Menschen versorgt. Ein paar Tage später kam ein dänisches Polizeiauto und hat uns abgeholt und von der Insel Seeland auf die Insel Fünen gebracht und dort in einem evangelischen Kinderheim versteckt, das auch ein Bauernhof war.

Zischup: Wie war es auf dem Bauernhof?

Rottberger: Auf dem Grundstück durften wir uns frei bewegen, doch auf die Straße durften wir nicht, denn nebenan gab es ein Wäldchen, in dem deutsche Soldaten wöchentlich Schießübungen machten. Nur sehr selten kamen sie auf den Bauernhof um Lebensmittel zu stehlen, die armen Soldaten hatten ja auch Hunger. Wenn sie Schießübungen machten oder wir sie von Weitem hörten, haben wir uns versteckt. Unsere Pflegemutter hatte uns erklärt, dass diese bösen Männer schwarzhaarige Kinder gar nicht mögen. Das Word Jude hat sie nie in den Mund genommen. Wir selbst wussten auch nicht, dass wir welche waren.

Zischup: Warum hat euch dieses Kinderheim überhaupt aufgenommen?

Rottberger: Unsere Pflegemutter war gläubig und glaubte, dass Gott sie ausgewählt hatte, diese Kinder zu beschützen.

Zischup: Wurdet ihr mal erwischt von den Soldaten?

Rottberger: Ja, einmal haben wir uns im Heuboden versteckt. Da kam ein Soldat die Leiter hinauf, da sie irgendwas mit Taschenlampen suchten. Er sah meine große Schwester im Heu, zog sie raus, nahm sie in den Arm und sagte: "So eine süße Tochter habe ich auch in Hamburg", und versteckte sie wieder im Heu. Von unten kam die Frage: "Ist da oben was?", und der Soldat, der meine Schwester gefunden hatte, sagte zu seinen Kollegen: "Hier oben ist alles in Ordnung". Danach verschwanden die Soldaten wieder.

Zischup: Wie lange habt ihr auf dem Bauernhof gelebt?

Rottberger: Wir haben bis Sommer 1945 auf dem Bauernhof gelebt, das war ein paar Monate nach Kriegsende, bis unsere Eltern uns mit der Hilfe des dänischen Roten Kreuzes gefunden haben.

Zischup: Seid ihr dann nach Schweden oder seid ihr in Dänemark geblieben?

Rottberger: Wir sind noch zehn Jahre nach Kriegsende in Dänemark geblieben und gingen auch dort zur Schule. Im Sommer 1955 beschloss mein Vater nach Konstanz in Deutschland zurückzukehren, und das wollte er zu Fuß machen. Seine Begründung war: "Niemals werdet ihr Deutschland so kennenlernen wie auf dieser Wanderung." Wir sind ungefähr ein Vierteljahr gelaufen. Unsere Familie hatte sich inzwischen vergrößert: Meine Eltern und wir sieben Kinder, dazu kam noch, dass meine große Halbschwester in Konstanz ein Kind zur Welt gebracht hat.

Zischup: Wie wurdet ihr in Konstanz aufgenommen und behandelt?

Rottberger: Als wir ankamen, wurden wir gefragt, warum wir ausgerechnet nach Konstanz gekommen sind. Mein Vater sagte: "Ich bin doch Deutscher ich kann mich doch niederlassen, wo ich will", das gefiel der Verwaltung nicht, aber sie sagte: "Okay, dann bleibt, wo ihr angekommen seid." Das war die Jugendherberge, die gleichzeitig ein Wasserturm war. Sie wurde im Winter geschlossen, da sie nicht beheizbar war. Wir durften bleiben, da die Verwaltung hoffte, dass wir freiwillig verschwinden würden. Doch mein Vater stellte sich stur und wir erlebten einen sehr langen und kalten Winter. Erst im Frühling 1956, als die Behörden merkten, dass sie uns nicht loswerden konnten, haben sie uns nicht ganz freiwillig eine Drei-Zimmer-Wohnung bereitgestellt.
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