Der Krieg weckt traumatische Erinnerungen
Alide Butz ist als Kind im Zweiten Weltkrieg aus Bessarabien, das in der heutigen Ukraine liegt, ins Schwäbische geflohen.
Leonard Haimb, Klasse 9a, Deutsch-Französisches Gymnasium (Freiburg)
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Meine Oma heißt Alide Butz und ist 1935 in Friedenstal geboren, einem Dorf in Bessarabien, welches heute auf dem Gebiet der Ukraine liegt und zur Oblast Odessa gehört. Ihre Vorfahren sind 100 Jahre vorher dorthin aus Württemberg ausgewandert, angeworben vom Zaren Alexander I.. Diese deutschen Siedler lebten als Bauern und verwandelten die Steppe in fruchtbares Ackerland.
Im Sommer 1940 wird Bessarabien von der Sowjetunion als Folge des Hitler-Stalin-Paktes militärisch besetzt. Es folgt die Umsiedlung fast aller dort lebender "Volksdeutschen" in das Deutsche Reich. Sie lassen ihre Höfe mitsamt dem Großteil ihres Besitzes zurück und machen sich auf den beschwerlichen und monatelangen Weg, der über viele Lager, über Land und die Donau führt. Krankheiten fordern viele Menschenleben.
Meine Oma wird mit ihren vier Geschwistern und ihren Eltern im besetzten Polen auf einem Hof angesiedelt, auf dem kurz vorher noch polnische Bauern gelebt haben. Diese arbeiten dort nun als Mägde und Knechte. Die Eltern meiner Oma fühlen sich bei dem Gedanken sehr unwohl, dass den Polen ihr Eigentum genommen wurde. Diese sind nun Angestellte, wobei immer alle zusammen zum Essen am Tisch sitzen.
Nachdem im Januar 1945 die Rote Armee – so werden die sowjetischen Soldaten genannt – vorrückt, müssen die Bessarabiendeutschen fliehen. Wieder verlieren sie alles, was nicht auf die Pferdefuhrwerke passt. Meine Oma, damals neun Jahre alt, ihre drei Schwestern und ihre Mutter fliehen mit dem Zug. Die Züge sind komplett überfüllt und einmal gehen die Kinder an einem Bahnhof fast verloren.
Ihr älterer Bruder und ihr Vater fliehen wenig später mit jeweils einem Pferdefuhrwerk und fünf Pferden. Meine Oma erinnert sich noch genau daran, wie ihr Bruder den Weihnachtsbaumschmuck sorgfältig einpackt. Die Flucht wird für ihn und den Vater sehr traumatisch: Es ist bitterkalt, die Wege sind vereist und die Zeit drängt.
Sie treffen die Eltern des Vaters, die ihre Pferde am Wegrand trinken und sich erholen lassen. Meine Oma erzählt, dass ihr Vater die beiden angetrieben hat, schnell weiterzugehen, da die Brücke über den Fluss gesprengt werden sollte. Er sieht sie zum letzten Mal: Sie schaffen es nicht mehr über die Brücke. Die Großmutter meiner Oma wird nach Sibirien verschleppt und stirbt dort im selben Jahr an Hunger und Kälte, der Großvater stirbt an der Pest.
Der Bruder meiner Oma und ihr Vater verlieren sich aus den Augen. Der 13-Jährige ist für mehrere Tage mit seinem Pferdefuhrwerk auf sich allein gestellt, bis sie sich endlich wiederfinden. Der Bruder hat erfrorene Zehen.
In Deutschland wird die Familie in der Lüneburger Heide wiedervereint. Der Krieg ist aber noch nicht vorbei, und die Mutter meiner Oma wird bei einem Angriff durch einen Granatsplitter, schwer verletzt. Sie kommt in ein Lazarett weit weg. Meine Oma und ihre Geschwister sind sich in dieser Zeit oft selbst überlassen. Erst als der Krieg vorbei und die Mutter, die zum Glück überlebt hat, wieder zu Hause ist, beginnt in der Erinnerung meiner Oma ein schöner Sommer. 1946 geht die Familie nach Vaihingen/Enz, wo meine Oma ihre Jugend verbringt und später meinen Opa kennenlernt.
Vergangenes Jahr habe ich zusammen mit meiner Oma meinen Großonkel, ihren Bruder, besucht, der heute 91 Jahre alt ist. Die beiden hatten sich viel zu erzählen über die Flucht. Es sind auch Tränen geflossen, so sehr ging es ihnen nahe, obwohl es schon so lange her ist.
Ich war in dem Moment sehr froh, dass ich in meinem Leben nur Frieden erlebt habe. Der Angriff auf die Ukraine hat mich sehr betroffen gemacht. Das Leid, das der Krieg meiner Oma zugefügt und ihr Leben geprägt hat, wiederholt sich jetzt für so viele Menschen. Ich kann mich ihrem Wunsch nach Frieden nur anschließen!
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