Zischup-Interview
"Angst und Hunger waren unser ständiger Begleiter"
Quentin Scherles Großvater war vier Jahre alt, als er seine Heimat verlassen musste. Für seinen Enkel war das Grund genug, mal genauer nachzufragen. Quentin Scherle geht in die Klasse 9b des Kreisgymnasiums Bad Krozingen.
Quentin Scherle, Klasse 9b, Kreisgymnasium & Bad Krozingen
Fr, 13. Mai 2016, 0:00 Uhr
Schülertexte
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Zischup: Wo hattet ihr gelebt? Und wo wurdet ihr geboren?
Opa: Ich habe mit meinen Eltern und meinen vier Geschwister in der Nähe von Glatz, Niederschlesien, bis zur Vertreibung im Jahr 1945 gelebt. Dort sind wir fünf Kinder auch alle geboren worden.
Zischup: Wie alt waren deine Eltern 1945 und welche Tätigkeit übten sie aus?
Opa: Mein Vater war zu dem Zeitpunkt 35 Jahre alt. Er war Bauarbeiter und meine Mutter war nur 26 Jahre alt. Sie war Hausfrau und Mutter von fünf Kindern.
Zischup: Warum musstet ihr damals fliehen?
Opa: Die Deutschen hatten den Krieg verloren und die Sieger, in unserem Fall die Polen, vertrieben von Haus und Hof. Sie hatten einen großen Hass auf uns, schließlich hatten die Deutschen unnötigerweise mit dem Zweiten Weltkrieg begonnen. Schlesien gehört seitdem zu Polen, nicht mehr zu Deutschland.
Zischup: Wie seid ihr geflohen?
Opa: Mit Pferdefuhrwerken. Mit unserem wenigen Hab und Gut marschierten meine Eltern, wir fünf Kinder und viele andere Vertriebene nach Westen. In unserer Umgebung gab es noch viele andere Deutsche. Wir konnten bloß das Nötigste mitnehmen, da uns nicht viel Zeit zum Packen gelassen wurde. Außerdem gab es auf einem Pferdefuhrwerk oder einem Handwagen nicht viel Platz.
Zischup: Was habt ihr während der Flucht erlebt?
Opa: Soviel ich mich erinnern kann, schließlich war ich nur vier Jahre alt, sahen wir auf dem langen Weg – immerhin über 800 Kilometer – viele deutsche und auch zum Teil russische Soldaten auf ihren Fahrzeugen und Panzern an uns vorbeifahren. Dabei trieben riesige Trecks von Flüchtlingen vor uns oder hinter uns her. Zudem spürten wir die Eiseskälte und einen furchtbaren Hunger.
Zischup: Hattet ihr Angst?
Opa: Natürlich, die Angst, die Kälte und der Hunger waren unsere ständigen Begleiter.
Zischup: Wo endete eure Flucht?
Opa: Nach immensen Entbehrungen und vielen Einschränkungen erreichten wir in Westfalen den Ort Lenzinghausen, nicht unweit von Bielefeld. Dort fanden wir eine warme Bleibe in einem westfälischen Fachwerkhaus. Wir bekamen endlich was Vernünftiges zu Essen.
Zischup: Wie ging es nach der Flucht für euch weiter?
Opa: In Lenzinghausen fanden wir ein neues Zuhause. Meine Eltern wurden Fabrikarbeiter. Wir Kinder gingen zur Grundschule und später besuchten wir die weiterführenden Schulen. Meine Schwestern bekamen im Krankenpflegedienst eine Tätigkeit. Meine Brüder und ich fanden eine Ausbildung im Handwerk. Nach ein paar Jahren zog es mich weiter weg. Als Berufssoldat bei der Luftwaffe wurde ich für einige Jahre auf die wunderschöne italienische Insel Sardinien versetzt. Meine beiden Schwestern heirateten und blieben in Westfalen, während es meine beiden Brüder sogar noch weiter als mich in die Ferne trieb. Mein jüngerer Bruder wanderte in den sechziger Jahren zuerst nach Kapstadt in Südafrika aus, dann nach Sydney in Australien. Mein älterer Bruder ging ebenfalls nach Australien, allerdings nach Melbourne.
Zischup: Wie sehr haben dich diese grausamen Erlebnisse geprägt?
Opa: Ich würde sagen, dass die Flucht selber für mich keine negativen Auswirkungen hatte, da ich immer in Gemeinschaft mit meinen Eltern und Geschwistern blieb. Durch meine religiöse Erziehung und meinen Glauben spürte ich stets eine gewisse Sicherheit im Herzen.
Zischup: Fühlst du dich jetzt eigentlich mehr wie ein Westfale oder doch eher wie ein Schlesier?
Opa: Ich fühle mich wie ein trinkfester Westfale auf soliden Beinen.
Zischup: Bist du nochmal an deinem Geburtsort zurückgekehrt?
Opa: Ich war schon an manchen Orten dieser Welt, zum Beispiel in Südeuropa, Skandinavien, Kanada, Südamerika, Südafrika und Australien, aber an meinem Geburtsort bin ich bis heute noch nicht zurückgekehrt. Aber wer weiß, vielleicht ja irgendwann mal.
Zischup: Opa Klaus, vielen Dank für dieses Gespräch!