Schiffbrüchige

Wie ein Verein seit 150 Jahren Menschen aus Seenot rettet

Wenn Menschen in Seenot geraten, schrillen in Bremen oft die Alarmglocken. Dort versucht ein Verein seit 150 Jahren, Schiffbrüchige zu retten – und hat das bereits 82 000 Mal geschafft.  

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Schlechtes Wetter kennt er nicht: Ein Seenotrettungskreuzer im Einsatz. Foto: GGzRS/ Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger 
Das Seenotsignal kam von einer Boje. Einer Funkboje, die automatisch einen Notruf sendet, wenn sie bei einem Bootsunglück über Bord geht und ins Wasser fällt. Irgendetwas muss also passiert sein, draußen auf hoher See im Atlantik, vor der Küste von Marokko. Die mitgesendete Kennung zeigt: Die Boje gehört zu einer Segeljacht aus Deutschland. Und damit ist dieser Seenotruf ein Fall für die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) im fernen Bremen.

Am kommenden Freitag feiert der gemeinnützige Verein groß seinen 150. Geburtstag. Aber Wilhelm Elies (60) und Sven Goldammer (53) ist das im Moment egal. Die beiden sind Wachleiter in der DGzRS-Seenotleitung und haben jetzt Wichtigeres zu tun: An ihren beiden halbrunden Schreibtischen mit jeweils acht Computerbildschirmen versuchen sie herauszufinden, was da draußen passiert ist. "Es gibt eine Datenbank mit Angaben über Schiffseigner", erzählt Elies. Das Dumme ist nur: Keine der hinterlegten Telefonnummern ist erreichbar. Am Ende übergeben die Bremer den Fall an Kollegen in Lissabon. Die schicken ein Suchflugzeug los. Und siehe da: alles in Ordnung, kein Notfall, nur ein Fehlalarm. Elies und Goldammer haben mehrere Stunden für nichts gearbeitet. Aber lieber einmal zu viel als einmal zu wenig aktiv werden.

Diese Devise galt nicht immer in Seenotfällen. Noch vor zwei Jahrhunderten schauten die Einheimischen oft ungerührt zu, wenn an ihren Gestaden Schiffe auf Grund liefen. Unglücke galten als Schicksal, als göttliche Strafgerichte. Wie sollte man auch helfen? Dafür gab es keine Vorkehrungen. Da griff man schon lieber beherzt zu, wenn wertvolle Ladung der havarierten Schiffe angeschwemmt wurde.

Erst von 1850 an richtete die preußische Regierung Rettungsstationen an der Ostsee ein. Das nützte allerdings nichts, als 1854 vor der Nordseeinsel Spiekeroog das Auswandererschiff "Johanne" strandete. 84 Menschen ertranken vor den Augen der entsetzten Inselbewohner. Unter dem Eindruck solcher Katastrophen entstanden von 1861 an nach und nach erste regionale Seenotretter-Vereine. Weil sie sich am 29. Mai 1865 zur DGzRS zusammenschlossen, darf jetzt in Bremen gefeiert werden – mit Festakt samt Bundespräsident, mit Schiffsparade und Taufe zweier neuer Rettungsboote.

Unvorstellbar, wie primitiv vor 150 Jahren die Ausrüstung war. Die Retter mussten gegen die Brandung auf die See hinausrudern. Oder sie schossen vom Ufer aus eine Leine zum gestrandeten Segler, und die Seeleute fuhren quasi Seilbahn: In einer an der Leine hängenden "Hosenboje" wurden sie an Land geholt.

Da war es schon ein großer Fortschritt, als 1911 das erste mit einem Motor ausgerüstete Rettungsboot in See stach. In den 1930er Jahren sahen die DGzRS-Schiffe mit ihrem hohen Kommandoturm bereits ein bisschen so aus wie die heutigen Rettungskreuzer. Deren Zeit brach 1957 an. Ein neuartiger Schiffstyp wurde in Dienst gestellt, mit 37 Kilometer pro Stunde doppelt so schnell wie die bisherigen Boote, mit einem Tochterboot huckepack. Der größte Vorteil war aber: Schlug eine große Welle das Schiff um, richtete es sich von allein wieder auf.

Heute kommandiert die Bremer Zentrale eine stattliche Flotte von rund 60 kleinen und großen Wasserfahrzeugen an 54 Stationen, seit 1990 auch wieder im Osten. Dort hatte die DDR ihren eigenen staatlichen Rettungsdienst aufgebaut. Der Westen blieb in der Hand der gemeinnützig-privaten DGzRS: Systemunterschiede gab es selbst in der Seenotrettung.

Was Landratten am ehesten kennen, sind die klassischen Rettungskreuzer mit offenem Fahrstand und bis zu 27,5 Metern Länge. Bei neueren Modellen steht die Besatzung nicht mehr im Regen. Der größte Kreuzer mit geschlossener Kommandobrücke bringt es auf 46 Meter Länge. Sein Heimathafen liegt auf der Insel Helgoland.

Ganz schön eng geht es zu auf den Kreuzern, auf denen vier Männer zwei Wochen lang rund um die Uhr miteinander klarkommen müssen, bis sie von der nächsten Schicht abgelöst werden. Sie schlafen in Kammern unter Deck, sie sehen fern im Gemeinschaftsraum, sie kochen reihum in einer kleinen Kombüse – "einfaches Essen, aber trotzdem kein Dosenfutter", wie DGzRS-Sprecher Christian Stipeldey versichert.

180 Hauptamtliche wechseln sich auf den 20 Kreuzern ab. Nautiker und Techniker sind dabei, die früher auf großer Fahrt waren und dann doch lieber heimatnah arbeiten wollten – und dabei auch noch Gutes tun.

Jederzeit müssen sie mit einem Einsatz rechnen, der sie Gesundheit und Leben kosten kann. Ihr Motto: "Rausfahren, wenn andere reinkommen." Das Wort Angst mögen sie trotzdem nicht hören. Lieber nennen sie es "Respekt", Respekt vor der Naturgewalt des Meeres und des Wetters – und dem Restrisiko. In anderthalb Jahrhunderten blieben 45 DGzRS-Männer auf See. Neben den festangestellten Besatzungen engagieren sich mehr als 800 Freiwillige, darunter 35 Frauen. Sie halten die kleineren Rettungsstationen am Laufen. Wenn vor Juist oder in Ueckermünde ein Havarist Hilfe braucht, schickt die Leitstelle eine SMS an die Außenpostenmitarbeiter, und die eilen dann zu ihren Sieben- bis Zehn-Meter-Booten wie an Land die Mitglieder der Freiwillige Feuerwehr zu ihren Löschfahrzeugen.

Wenn nötig, steigen auch noch Ärzte ins Boot, die dafür in ihrer Praxis oder Klinik alles stehen und liegen lassen. Auf den Kreuzern wartet auf sie sogar ein "Bordhospital". Das klingt allerdings gewaltiger, als es ist: ein Jalousienschrank mit wasserdichter Notarztausrüstung.

Die Bilanz nach 150 Jahren: 82 000 Seeleute und Freizeitskipper wurden gerettet, im vergangenen Jahr allein 2183. Nicht immer ging es dabei gleich um Leben und Tod, manchmal war auch nur einfach die Steuerung eines Schiffes ausgefallen.

Und wer bezahlt das alles? "Die Arbeit des deutschen Seenotrettungsdienstes wird ausschließlich durch Spenden und freiwillige Zuwendungen finanziert", betont die DGzRS. 300 000 Förderer überweisen regelmäßig Geld, Reedereien tragen 1,5 Millionen Euro bei, und Gelegenheitsspender füllen die 14 000 Sammelschiffchen, die nicht nur in Kneipen, sondern auch im Bremer Senatssaal stehen. Freilich nicht mehr wie früher sogar auf der Zugspitze, sondern nur noch "hoch und trocken auf dem Brocken", wie Sprecher Christian Stipeldey reimt.

Bei der Definition der "freiwilligen Zuwendungen" ist die Organisation allerdings großzügig. Dazu zählt sie nämlich auch Bußgelder aus eingestellten Strafverfahren, die fast 400 000 Euro pro Jahr einbringen. Das Freiwillige daran, sagt der Verein, sei die Entscheidung der Richter, diese Geldauflagen an die DGzRS und nicht an andere Institutionen fließen zu lassen. In den 1950er Jahren gab es gelegentlich kleine Staatszuschüsse für den Wiederaufbau der Rettungsflotte.

Geld verdient die Gesellschaft, wenn sie Kranke von Inseln zu Festlandkliniken transportiert: Das zahlen die Krankenkassen. Oder wenn sie technische Hilfe leistet, etwa havarierte Boote abschleppt. Das sind allerdings nur höchstens 400 Euro pro Einsatz – nicht viel angesichts eines Jahresetats von 36 Millionen Euro. Die DGzRS versichert jedenfalls: Nur zusätzliche Aufgaben würden in Rechnung gestellt; der Kernauftrag bleibe gebührenfrei – die Suche und Rettung von Menschen in Seenot.

Manchmal sind auch andere Kompetenzen gefragt. "Unser Spektrum reicht von Seelsorger bis Kriminologe", sagt Wachleiter Goldammer über die Arbeit der Seenotleitung, die international als "MRCC Bremen" firmiert ("Maritime Rescue Coordination Centre"). Der frühere Kapitän musste schon per Telefon Ehefrauen beruhigen, die um ihre Männer auf hoher See bangten. Und einmal wurde er in einen Krimi verwickelt: Ein Offizier hatte seinen Kapitän ausgeraubt und ermordet, das Schiff in Brand gesteckt und sich selber per Rettungsfloß davongemacht. Die Seenotretter halfen damals bei der Suche nach dem mit Autopilot weitertuckernden Schiff.

In solchen Schichten, und die dauern in der Zentrale volle 24 Stunden, bleibt kaum Zeit für ein Nickerchen. Wachleiter Goldammer: "Da geht man morgens wie ein graues Männchen nach Hause."

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