Spurensuche in Niger

Warum wollen so viele Afrikaner nach Europa?

Wer wissen will, warum so viele junge Afrikaner nach Europa wollen, muss sich im Staate Niger umhören / Unser Korrespondent war dort.  

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Boomtown-Bürgermeister Rhissa  | Foto: Johannes Dieterich
Boomtown-Bürgermeister Rhissa Foto: Johannes Dieterich
Die Hitze brennt wie ein Bügeleisen auf der Haut. Harmattan, der Wüstenwind, fegt den Staub durch die Straßen der Stadt: Erbarmungslos setzt sich der feine Sand in Augen, Mund und Ohrmuscheln ab. Wer es sich leisten kann, zieht sich jetzt hinter die dicken Mauern einer Auberge zurück – und dabei ist es noch nicht einmal Mittag in Agadez. Trotzdem scheint alle Welt auf den Beinen zu sein.

Auf einem Straßenmarkt im Zentrum der Stadt sucht sich eine Gruppe Ghanaer Axtstile aus Holz aus, die ihnen bei der Fahrt durch die Sahara auf der Ladefläche eines der Pickups als Haltegriffe dienen sollen. Spindeldürre Jungs aus Gambia decken sich mit Wasserkanistern ein, ohne die sie die viertägige Reise nicht überleben würden. Und in der Filiale der Sonibank hat sich vor dem Schalter eine Schlange junger Senegalesen formiert: Jeder der gut 20-Jährigen hebt noch schnell 200 000 CFA-Francs (300 Euro) ab, die sie zumindest über die nigrische Grenze in die 1700 Kilometer entfernte libysche Oasenstadt Sabha bringen sollen.

Montagmorgens ist Rushhour in Agadez. Aus allen Teilen Westafrikas angereiste Migranten treffen letzte Vorbereitungen für den bis dahin härtesten Abschnitt ihrer zum Teil Monate oder gar Jahre dauernden Reise ins gelobte Europa. Am Nachmittag wird das nigrische Militär einen Konvoi zusammenstellen, dem sich außer einigen Dutzend Lastwagen auch weit über einhundert Schlepper mit ihren Pickups anschließen. Die Soldaten werden den Zug bis Dirkou, ein 650 Kilometer entferntes Garnisonsstädtchen in der Sahara, begleiten: Von dort setzen die Schlepper ihre Reise dann ohne Schutz fort. Woche für Woche werden auf diese Weise Tausende von Afrikanern durch die Wüste in Richtung Tripoli geschleust, wo sie ihre nicht selten tödliche Überquerung des Mittelmeers antreten.

Die Etappe durch die Sahara hat es allerdings kaum weniger in sich: Paloma Casaseca von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) vermutet, dass die Wüste fast ebenso vielen Menschen zum Verhängnis wird wie das Mittelmeer. Erst vor zwei Monaten seien wieder 35 Leichen in zwei gestrandeten Lastwagen gefunden worden, erzählt die junge Spanierin. Wie viele Menschen für immer im Sandmeer verschwinden, weiß keiner.

Ahmed Bello greift noch einmal kräftig zu. Der 34-jährige Tuareg sitzt in seiner schmucklosen Hütte am Nordrand der Stadt und lässt zu kleinen Bällchen geformten Reis mit Hühnersoße in seinem Mund verschwinden. Einst chauffierte Bello europäische Touristen zu Exkursionen in die Wüste, doch seit dem Tuareg-Aufstand vor acht Jahren und der anschließenden Entführungswelle europäischer Reisender durch islamistische Extremisten sind die begüterten Besucher weggeblieben. Jetzt sucht sich der Chauffeur an afrikanischen Migranten schadlos zu halten: Die zahlen zwar nicht so gut, doch dafür kann er mindestens 25 von ihnen auf seinen Toyota Hilux quetschen. Westliche Touristen fanden dagegen nur drei in seinem Fahrzeug Platz.

Bello nennt sich selbst den Exodusmann. Er biete seinen Kunden eine wichtige Dienstleistung. Migration sei in diesem Teil der Welt schon seit Jahrzehnten gang und gäbe, sagt der Chauffeur. Respekt scheint er vor seinen Kunden dennoch nicht zu haben. Er pflege mit einem derartigen Karacho über die Sandpiste zu brettern, dass immer mal wieder ein Fahrgast von der Ladefläche fliege, erzählt Bello lächelnd. Ernsthaft verletzt werde dabei in der Regel keiner: Die über Bord Gehenden landeten meist weich im Sand. In der Regel fahre er nachts, setzt der Chauffeur hinzu. Und wenn er nach einer kurzen Rast wieder auf die Piste dränge, setze er seinen Gürtel ein, um die erschöpften Passagiere auf die Ladefläche zurückzutreiben.
Er will es nach Frankfurt schaffen – und studieren
Mit der gut viertägigen Reise nach Sabha nimmt der Chaffeur gut 4000 Euro ein. Davon gehen 500 Euro für Benzin drauf. Den Rest muss er sich mit seinem Vetter teilen, einem Schlepper, den sie hier Passeur nennen. Der kümmert sich um die Akquise, ihm gehört auch der Wagen. Reich wird Bello auf diese Weise nicht. Doch mehr als die 100 Euro, die er einst als Touristenchauffeur wöchentlich einstrich, sind auf jeden Fall drin.

Sein erster Fahrgast wartet in Bellos Hütte bereits ungeduldig auf die Abfahrt. Er heißt Ismael Illa, ist 19 Jahre alt und taub. Ismael hat gelernt, die Worte von den Lippen seiner Gegenüber abzulesen: Sein strahlendes Gesicht verrät, dass er es kaum erwarten kann, die Heimat in Richtung Libyen zu verlassen. Bello hat arrangiert, dass der taube Junge bei Bellos älterer Schwester in Sabha arbeiten kann: Ismaels Eltern waren froh, dass ihr behinderter Sohn eine Beschäftigung fand. Von der in Libyen lauernden Gefahr wollen weder Ismael noch seine Familie etwas wissen: Seit Revolutionsführer Gaddafi dort mit Hilfe der Nato vom Thron gebombt wurde, haben Kriegsfürsten, Islamisten und gewissenlose Opportunisten die Macht übernommen. IOM-Sprecherin Casaseca weiß von Migranten, die in Libyen wie Sklaven gehalten würden. Wenn ein Arbeitgeber die Migranten nicht bezahlen wolle, schicke er sie nach einem halben Jahr einfach ohne Sold über die Wüste zurück. In Agadez werden die gescheiterten Arbeitssuchenden vom IOM in einem am Stadtrand gelegenen "Empfangszentrum" aufgefangen.

Jamal Kwabena blieb von derartigen Misshandlungen bislang verschont. Der muskelbepackte Ghanaer arbeitete bereits zweimal als Anstreicher in Libyen, bis er sein Gastland aus Sicherheitsgründen fluchtartig verlassen musste. Mehrere Monate schlug sich Kwabena zu Hause in Accra mit dem Verkauf von Handys durch. Doch nachdem ihm seine Mobiltelefone ständig geklaut worden waren, machte sich der 28-Jährige wieder auf den Weg. Diesmal will er es bis nach Europa schaffen. In der Nähe von Frankfurt lebt ein Vetter von ihm, bei dem er unterkommen könne: Dort will er etwas mit Computern studieren. Kwabena hat Abitur. Ein Studium aber, das ihm sein verstorbener Vater nicht finanzieren konnte, ist bislang ein Traum geblieben.

Kwabena sitzt in einem Verschlag im Hinterhof eines Hauses, das sie hier Getto nennen. Die 130 000-Einwohner-Wüstenstadt verfügt über unzählige solcher Gettos, in denen die Migranten vor ihrer Wüstendurchquerung noch ein paar Tage – manche auch Wochen oder gar Monate – verbringen, um die nötigen Mittel zusammenzukratzen. Die Behörden dulden die Gettos, obwohl die "wirtschaftliche Nutzung" der Migration seit April eigentlich verboten ist. Auf Drängen der EU verabschiedete die Regierung ein Gesetz, das den "Menschenhandel" unter Strafe stellt – doch zwischen Theorie und Praxis klafft eine mächtige afrikanische Lücke.

Schon auf dem Weg nach Agadez, den die Migranten in der Regel mit Bussen zurücklegen, werden sie an unzähligen Straßensperren schamlos von Polizisten geschröpft. Und in Agadez nimmt das Militär den Schleppern unverfroren einen Obolus für die Aufnahme ihrer Pickups in den Militärkonvoi ab. "Unter solchen Bedingungen", sagt ein Diplomat, "ergibt das Gesetz natürlich wenig Sinn."

Filip de Cheuninck hat trotzdem noch nicht aufgegeben. Der belgische Polizeikommissar empfängt seine Besucher im vollklimatisierten Büro in Niamey, von wo aus der Chef des europäischen Kapazitätsbildungsprogramms "Eucap Sahel" eigentlich die Koordination zwischen den nigrischen Sicherheitskräften stärken und deren Kampf gegen den islamistischen Terror und das organisierte Verbrechen – vor allem den Waffen- und Drogenschmuggel – unterstützen soll. Vor mehreren Monaten wurde dem Polizeibeamten allerdings noch eine weitere Aufgabe aufgebrummt. Mit seinen 45 europäischen und 30 lokalen Mitarbeitern soll er auch noch die Migration durch den Niger, den mit Abstand größten Reisestrom im Westen Afrikas, eindämmen helfen.

Der Belgier meint, tatsächlich etwas ausrichten zu können. Zwar herrscht im westafrikanischen Staatenbund Ecowas weitgehende Reisefreizügigkeit, fast wie im Schengen-Raum: Nigerianer, Senegalesen, Gambier oder Ivorer brauchen lediglich einen Personalausweis, um sich in der gesamten, aus 15 Staaten bestehenden Region frei bewegen zu können. Trotzdem könnten Migranten bereits an der Grenze in den Niger abgewiesen werden, sagt de Cheuninck: Denn ohne triftige Gründe für ihre Reise dürften sie von den Grenzbeamten eigentlich nicht durchgelassen werden. Seit der Verabschiedung der Gesetzesnovelle seien auch schon mehr als 3000 Migranten abgewiesen worden, sagt der Euro-Polizist. Angesichts der weit über 150 000 Migranten, die nach Angaben der IOM allein in diesem Jahr bereits durch Agadez geschleust worden sind, allerdings kein Grund, um Triumphe zu feiern.

De Cheunincks Polizistentrüppchen ist nicht die einzige europäische Reaktion auf den Migrantenboom. Auch per Entwicklungshilfe will die Union dem westafrikanischen "Migrationsdruck" entgegenwirken: Wer zu Hause ein akzeptables Leben führen könne, so die Logik, werde die lebensgefährliche Reise nach Europa erst gar nicht antreten. Allerdings steht noch nicht einmal fest, welche Motive bei der Migration eigentlich entscheidend sind. Oft sind es ausgerechnet Abiturienten wie Jamal Kwabena, die von ihrer Familie zum Geldverdienen ins Ausland geschickt werden – oder die auf eigene Faust losziehen. Das erinnert an Handwerksgesellen in Europa, die einst auf Wanderschaft gingen, bevor sie als gemachte Männer wieder in die Heimat zurückkehrten. In manchem westafrikanischen Staat wie in Gambia gibt es allerdings ganze Regionen, die von jungen Männern praktisch entvölkert sind. "Kein einziger meiner Freunde", erzählt der 19-jährige Gambier Dembo auf dem Busbahnhof von Niamey, "ist zu Hause geblieben." Obwohl die IOM eigentlich nicht gegen die Migration sei, die sie als "Dynamik" und nicht als "Problem" betrachte, will sich die UN-Organisation künftig auch an der Abschreckung beteiligen, kündigt Sprecherin Casaseca an. In den vier nigrischen Auffangzentren der Organisation sollen jetzt entnervte Rückkehrer mit aufbrechenden Migranten zusammengebracht werden, um Letztere von ihren Plänen abzubringen.
Überall neue Häuser,

Banken, Geldautomaten
Feltou Rhissa, der Bürgermeister von Agadez, hat bislang weder etwas von "Eucap Sahel" noch von den neuen IOM-Plänen gehört. Er glaubt auch nicht daran, dass die Wanderungsbewegungen so einfach unterbunden werden könnten: "Wir Afrikaner befinden uns doch schon seit Hunderten von Jahren in Bewegung." Allerdings räumt der einen weißen Turban tragende Tuareg ein, dass der Migrantenstrom in diesem Jahr beispiellose Ausmaße angenommen habe: Zu Hochzeiten hätten bis zu 15 000 Menschen pro Woche Agadez passiert. Das habe der Wüstenstadt einen ungeheuren Boom beschert. Überall seien neue Häuser, Banken und sogar elektronische Geldmaschinen aus dem Boden geschossen. Seine Stadt werde durch den Ansturm allerdings auch vor große Probleme gestellt, fügt der Schultes hinzu. Die Strom- und Wasserversorgung sei an ihrer Kapazitätsgrenze, gleichzeitig häuften sich Verkehrsunfälle und Verbrechen. Für den Exodus macht der Bürgermeister nicht zuletzt die Europäer verantwortlich, die mit der Entmachtung Gaddafis und der Destabilisierung Libyens ein wichtiges Auffangbecken der Migration zerstört hätten. "Wenn die Leute die libysche Hölle passiert haben, kommt ihnen das Mittelmeer richtig süß vor", sagt Rhissa.

Abdou, der nur seinen Vornamen sagen will, irrt über den Busbahnhof. Um sich nach Europa durchschlagen zu können, hat der senegalesische Bäcker von seinem Bruder 350 Euro erhalten: Doch schon in Burkina Faso wurde er mehrmals überfallen und ausgeraubt, jetzt hat er keinen Groschen mehr. Abdou ist krank, schwärende Wunden deuten auf eine ernste Infektion hin. Am liebsten würde er nach Hause zurückkehren – wenn er dort nur nicht seinen Bruder und dessen Verachtung fürchten müsste. "Du musst jetzt stark sein", sucht ihm ein IOM-Mann aufzumuntern: "Bäcker sind doch mutige Menschen." Und während in Agadez wieder Hunderte zur halsbrecherischen Reise durch die Wüste aufbrechen, bleibt im IOM-Zentrum von Niamey ein einsamer verlorener Bäcker zurück – und weint.

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