Heldin
Wie eine blonde Jüdin in Südbaden gegen die Nazis spionierte
Marthe Cohn entsprach dem blonden Nazi-Ideal – doch sie war Jüdin / Im Dienst der französischen Armee sammelte sie während der Nazi-Zeit Infos aus Südbaden.
Kerstin Zilm
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Wenn beide Uniformierten ihr den Rücken zukehrten, sollte die junge Frau mit ihrem kleinen Koffer über die Wiese zur Straße gehen. Sie sollte ihre Papiere zeigen, ruhig Richtung Osten weitergehen und in Singen ihre Spionage-Mission beginnen. Marthe hatte ihren Begleiter im Wald zurückgelassen und wartete hinter einer Hecke auf den idealen Moment für den Beginn ihrer Mission.
Und dort hockte sie nun seit Stunden und war unfähig, sich zu rühren. Dämmerung setzte ein. Mehrmals hatte sie versucht, die Grenze zu überqueren, bisher immer im vertrauten Elsass, zwischen Cernay und Thann. Unvorhersehbare Frontverschiebungen, Missverständnisse und schlechtes Wetter hatten dreizehn Versuche vereitelt. Dabei musste sie ihren Auftrag erfüllen! Der lautete: im Feindesland Informationen sammeln über deutsche Truppenbewegungen und die Stimmung im Volk.
Marthe hatte ihr Spionage-Training in Mulhouse absolviert: Militärsymbole, Kartenkunde, Morsealphabet, Geheimschriften, Schießübungen mit Pistole und Maschinengewehr. Sie hatte eine neue Identität: Martha Ulrich, Einzelkind von Eltern, die bei einem Bombenangriff der Alliierten getötet worden waren; eine deutsche Krankenschwester aus Metz auf der verzweifelten Suche nach ihrem Verlobten, dem Soldaten Hans. Sie trug Fotos, Dokumente und Briefe bei sich, mit denen sie diese Geschichte belegen konnte. Aber sie hatte keinen Kompass, keine Landkarte, kein Funkgerät und keine Waffe. Marthe war gelähmt vor Angst.
In ihrem Versteck hinter der Hecke kam Marthe plötzlich ein Kommandant in den Sinn, der öffentlich ihre Tauglichkeit für den Spionageeinsatz in Frage gestellt hatte. Sie dachte auch an ihren Verlobten Jacques, den Widerständler, der exekutiert worden war, an ihre Schwester Stéphanie, die selbst im Arbeitslager unter Folter niemanden verriet. Beide hatten in schlimmsten Situationen Mut bewiesen. Nun war sie an der Reihe. "Ich stand auf und ging zur Straße. Die Angst war verschwunden. Ich ging auf den deutschen Soldaten zu, hob meinen rechten Arm und sagte Heil Hitler!", erinnert sie sich heute. Er fragte, wo sie hergekommen sei. Sie sagte, sie komme aus Gottmadingen und wolle nach Singen, um Freunde zu besuchen. Er prüfte ihre Papiere und ließ sie weitergehen. "Und da war ich nun: eine französische Soldatin, eine Jüdin, in Deutschland. Ich hatte diese schreckliche Angst überwunden und fühlte mich so frei wie nie zuvor." Ihre Arbeit als Spionin Martha Ulrich begann.
Geboren wurde sie am 13. April 1920 als Marthe Hoffnung-Gutglück, viertes von sieben Kindern einer jüdischen Familie in Metz in Lothringen. Ihre Eltern sprachen nur deutsch. Der schöne Nachname, sagt sie heute, sei ein gutes Omen gewesen. "Ich habe immer Glück gehabt in meinem Leben!" Er war aber keine Garantie für Glück. "Meine Schwester hatte denselben Namen. Sie wurde deportiert und ist in Auschwitz gestorben."
Zu Beginn der Nazi-Herrschaft halfen die Hoffnung-Gutglücks aus Deutschland flüchtenden Juden. Dann kam die Familie selbst in Bedrängnis. Nach Hitlers Angriff auf Polen flüchteten sie 1939 Richtung Südwesten, nach Poitiers. Ein Jahr später lag auch diese Stadt in besetztem Gebiet. Nur Dank der Hilfe von Freunden und Unbekannten entkamen sie dem Nazi-Zugriff. Marthes ältere Geschwister, Fred, Arnold und Cecile siedelten um in die "Zone libre". Die Zurückgebliebenen waren zunehmend Schikanen ausgesetzt. So kontrollierte jeden Abend ein SS-Offizier, ob sie die Ausgangssperre einhielten. Bei einem dieser Besuche wurde Stéphanie wegen ihrer Verbindung zu einem Bauern verhaftet, der Flüchtlingen über die grüne Grenze half.
1942 flüchteten auch Marthe und die anderen in einem waghalsigen Unternehmen in die unbesetzte Zone in Frankreich. Im Oktober 1943 wurden ihr Verlobter, dessen Bruder und zwei Freunde in Paris von einem Exekutionskommando wegen ihrer Arbeit für die Résistance erschossen. Zehn Monate später, wenige Tage nach der Befreiung von Paris, meldete sich Marthe freiwillig bei der Armee. "Ich war lange eine überzeugte Pazifistin und hätte nie gedacht, dass ich einmal eine Waffe anfassen würde", erzählt sie heute. "Aber ich habe gelernt, dass man manchmal kämpfen muss. Der Krieg musste so schnell wie möglich beendet werden!"
Sie begann als Sozialarbeiterin an der Front. Dann bat der Kommandeur ihrer Einheit sie eines Tages, in der Mittagspause den Telefondienst zu übernehmen. Oberst Pierre Fabien entschuldigte sich dafür, dass es in seinem Quartier nur deutsche Bücher zu lesen gebe. "Kein Problem", antwortete Marthe, "ich lese und spreche Deutsch." Fabien suchte weibliche Spione, die in Deutschland weniger auffallen würden, nachdem dort alle Männer eingezogen worden waren. "Wären Sie bereit, für den Geheimdienst zu arbeiten?", fragte er, und Marthe sagte ohne zu Zögern: "Ja!". Ihrer Familie erzählte sie, sie arbeite als Krankenschwester in der Nähe von Mulhouse. In Wirklichkeit war sie unter falschem Namen auf dem Weg in die Höhle des Löwen.
Berührt von der Geschichte der toten Eltern und des verschwundenen Verlobten öffneten Deutsche Wohnungen und Herzen für die verzweifelte und patriotische junge Frau mit den blonden Augen und blondem Haar. "Niemand traute mir kleinem Ding ernsthaft zu, eine Spionin zu sein", sagt Marthe heute und lacht verschmitzt.
In Freiburg rekrutierte sie erste Informantinnen: zwei Französinnen, die zum Militärdienst gezwungen worden waren. Die Frauen gaben ihr wertvolle Informationen über Truppenbewegungen. Ein SS-Offizier wurde zum unfreiwilligen Helfer der französischen Armee. Er gehörte zu einer Gruppe Deutscher, mit der Marthe von Freiburg nach Waldshut ging. Von einem Bauernhof aus wollte sie dort Informationen an die französische Armee übergeben. "Es gab ja keine Transportmittel, und ich bin nur einmal Zug gefahren – von Singen nach Freiburg. Danach habe ich nie wieder öffentliche Verkehrsmittel benutzt", erklärt die Spionin, die deshalb Hunderte von Kilometern im Schwarzwald zu Fuß zurücklegte. "Alle paar Minuten kontrollierte die Militärpolizei im Zug meine Papiere. Ich wollte es nicht unnötig drauf anlegen, erwischt zu werden."
Der SS-Offizier brüstete sich unterwegs mit Untaten von der Ostfront. Obwohl Marthe beim Zuhören fast schlecht wurde, kümmerte sie sich um den durch eine Verwundung geschwächten Offizier, als dieser während des langen Marschs unter der Sonne ohnmächtig wurde. Sie wurde belohnt. Der Offizier lud die Spionin ein, ihn am Westwall bei Freiburg zu besuchen. Als Marthe dort drei Wochen später eintraf, kamen ihr desertierende Soldaten entgegen. Die jungen Männer versicherten ihr, dass die sagenumwobene Verteidigungslinie an dieser Stelle aufgegeben war.
Auf einer anderen Fußreise durch den Schwarzwald entdeckte die eifrige Spionin zufällig einen versteckten Militärstützpunkt – einen letzten Hinterhalt der Wehrmacht. Zwischendurch gab es brenzlige Situationen, in der ihre Deckung fast aufflog. Doch durch gewandte Improvisation gelang ihr immer ein Ausweg. "Ich bin keine Lügnerin und keine Schauspielerin, aber mein Auftrag stand über allem. Ich tat alles, um ihn zu erfüllen."
Ihre letzten Informationen konnte Marthe persönlich an eine französische Einheit übergeben, die fast bis nach Freiburg vorgedrungen war. Bei der Nachricht vom Kriegsende überkam sie tiefe Traurigkeit. "Es sind so viele Menschen gestorben. Wir haben gewonnen, aber ich wusste nicht einmal, was mit meiner Familie geschehen war."
Bis auf Stéphanie hatten alle überlebt. Dass die Schwester schon im September 1942 nach Auschwitz gebracht wurde und dort starb, erfuhren sie erst später. Dass Marthe nicht nur Verwundete verarztet hatte, ahnte die Familie, als sie den Orden "Croix de Guerre" mit zwei Sternen der französischen Armee an ihrer Uniform sahen. Doch niemand stellte viele Fragen. Selbst Marthes Mann, Major Cohn, den sie 1953 in Genf kennen lernte und 1958 in den USA heiratete, kannte keine Einzelheiten. "Ich wusste, dass sie bei der französischen Armee und in Deutschland war. Sie hat mir ein paar Begebenheiten erzählt, aber ich habe nie nachgefragt, wie sie überhaupt da hin gekommen ist", erzählt er heute beim Tee in Kalifornien. "Ich musste ihr Buch lesen, um die ganze Geschichte zu erfahren." Die Autobiografie "Behind Enemy Lines" wurde im Jahr 2002 veröffentlicht. Zwei Jahre zuvor hatte Marthe Cohn die höchste Auszeichnung der französischen Regierung bekommen, die Médaille Militaire. Danach häuften sich Ehrungen und öffentliche Auftritte. Ihr Mann und ihre zwei Söhne waren überrascht. "Für uns war sie einfach unsere Ehefrau und Mutter", sagt Major Cohn lachend. Jetzt begleitet er sie bei ihren Vorträgen.
Vor zwei Jahren überreichte der deutsche Generalkonsul in Los Angeles Marthe Cohn das Bundesverdienstkreuz. Lange hat sie ihre Vergangenheit für sich behalten, weil sie andere Dinge zu tun hatte und weil sich niemand wirklich für die Kriegszeit interessierte. Jetzt ist es ihr wichtig, die Geschichte zu erzählen. "Ich möchte, dass die Menschen wissen: Juden haben gekämpft. Sie wurden nicht nur gefangen, in Lager gebracht und getötet. Viele Juden haben im Widerstand gekämpft. Das zu vermitteln, ist heute meine Mission."
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