Schule und Vereine
Gewalt und Mobbing haben in Japan Tradition
40 Ohrfeigen in einem Training, Blessuren, blauen Flecken: Ein 17-Jähriger erhängt sich, weil er die Schikane seines Basketballtrainers nicht mehr erträgt. Nicht der einzige Fall, der derzeit Japans Schlagzeilen beherrscht.
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Japans Öffentlichkeit zeigt sich geschockt. Überrascht kann sie eigentlich nicht sein. Die aggressiven Praktiken des 47-Jährigen waren bekannt. Schon 2011 ergeht an die zuständige Erziehungsbehörde des Industriezentrums Osaka eine anonyme Anzeige wegen Körperverletzung. Die Sakuranomiya-Schule streitet die Anschuldigungen erst vehement ab, niemand wisse von Übergriffen, Gewalttätigkeiten und Ausfälligkeiten der Sportlehrer. Aber die Schüler packen aus. Mehr als 20 Jungs des Basketballteams klagen, dass sie ebenfalls misshandelt werden. Keiner habe sich getraut aufzumucken, aus Angst, aus dem Team oder aus der Schule zu fliegen.
Der Trainer hat inzwischen zugegeben, seine Schüler regelmäßig verprügelt zu haben. Körperliche Züchtigung sei wichtig, um die Jugendlichen zu höheren Leistungen anzuspornen, sie härter und stärker zu machen, erklärt er – von sich und seinen Methoden überzeugt – den Medien. Noch immer rechtfertigt er seine Übergriffe, obwohl Prügelstrafen auch im fernöstlichen Inselstaat seit 1947 gesetzlich verboten sind.
Die Selbsttötung des jungen Basketballspielers und die Aussagen seiner Mannschaftskameraden haben offenbar auch andere Gremien gezwungen, Aufklärungsarbeit zu leisten. Seit Anfang Februar erschüttert ein Missbrauchsskandal den bis dato hoch angesehenen japanischen Judoverband. 15 seiner Topathletinnen hatten sich im Dezember schriftlich darüber beschwert, beim Training vor den Olympischen Spielen in London mit Bambusschwertern geschlagen, schikaniert und physisch missbraucht worden zu sein. Der Cheftrainer der Damennationalmannschaft, Exweltmeister Ryuji Sonoda, musste zurücktreten.
Die Sportlerinnen aber wollen mehr – fundamentale Veränderungen im gesamten Verband. "In der Judoföderation wurden unsere Stimmen nicht nur nicht gehört, sie wurden unterdrückt", zitieren Japans Medien die noch anonym bleibenden Eliteathletinnen. Erst als eine Serie von Berichten über Gewalt und Missbrauch erschien, sei überhaupt reagiert worden.
Der Fall schlägt in der Öffentlichkeit so hohe Wellen, dass Japans Olympisches Komitee jetzt umfassende Befragungen und Untersuchungen in allen Disziplinen angekündigte. Die Enthüllungen der Judoka sind für das JOK nämlich ein PR-Desaster – ein Albtraum für die Bewerbung Tokios um die Sommerspiele 2020. Man verspricht aufzuräumen und will den Verdacht loswerden, unlautere und rigide Methoden von Trainern, Lehrern und Betreuern im Umgang mit den ihnen anvertrauten jungen Menschen zu tolerieren.
Der Fall eines Schülers im westjapanischen Otsu, der dieser Tage ebenfalls die Schlagzeilen dominiert, ist exemplarisch. Der 13-Jährige kann die Erniedrigungen nicht mehr aushalten. Am 11. Oktober 2011 stürzt sich der Oberschüler vom 14. Stock seines Wohnhauses in den Tod. Er ist von Mitschülern brutal gequält worden. Die Schulleitung weist lange jeden Vorwurf zurück. Der Junge, räumt sie ein, sei zwar gemobbt worden – aber einen direkten Zusammenhang zu seinem Suizid gebe es nicht. Die Direktion wirft den verzweifelten Eltern sogar vor, das häusliche Umfeld habe nicht gestimmt.
Die empörte Familie geht an die Öffentlichkeit, erstattet Anzeige gegen die Schulleitung. Aber die Polizei verweigert die Kooperation, man könne die Vorwürfe nicht bestätigen. Erst als die Eltern im Februar 2012 eine Schmerzensgeldklage über 795 000 Euro gegen die Stadtregierung von Otsu und drei verdächtige Mitschüler einreichen, kommt Bewegung in den Fall und die Medien interessieren sich für die Akte und die Umstände.
Es stellt sich heraus, dass die Zeugenaussagen der Schüler sehr viel konkreter waren, als es die Schulleitung zugegeben hat. 15 Schüler sagten aus, dass der 13-Jährige systematisch gedemütigt wurde. Drei Mitschüler schlugen ihn im Klassenzimmer und auf den Fluren, drangsalierten und schikanierten ihn, zerrissen seine Hausaufgaben und Hefte. Immer wieder "rieten" die Peiniger dem Opfer, sich das Leben zu nehmen. Der Klassenlehrer und mehrere Kollegen sahen, was passierte, wurden auch von Schülern über die Vorfälle informiert. Ihre Reaktion: Das seien eben nur harmlose Jungen-Streiche.
Die Hinweise und das Medieninteresse führen dazu, dass die unter Druck geratene Polizei mehr als neun Monate nach dem Selbstmord mit Ermittlungen beginnt. Sie konfisziert Aufzeichnungen der Lehrer und Beweismittel gegen die drei verdächtigten Haupttäter. Schließlich setzen die Behörden eine unabhängige Untersuchungskommission ein, die 300 Schüler und alle Lehrer genauer befragt. Auch das Bildungsministerium in Tokio kümmert sich um diesen Fall.
Der Fall von Otsu bewegt die Öffentlichkeit nicht nur wegen der groben Vertuschungsversuche des Lehrpersonals. Schulmobbing ist ein ernsthaftes Problem, das in Japan "ijime" genannt wird. Immer wieder halten schwächere Mitschüler den brutalen Druck und die Einschüchterungen nicht mehr aus und nehmen sich das Leben. Die Zahl der gemeldeten Mobbing-Fälle ist zwischen 2006 und 2011 zwar statistisch von über 101 000 auf 75 000 gesunken. Aber auch das ist wohl ein schlechtes Zeichen, denn es deutet auf zunehmendes Vertuschen hin. Experten glauben, dass die Dunkelziffer tatsächlich viel höher liegt.
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