Interview
DDR-Zeitzeuge zu seinem Fluchtversuch: "Nach dem ersten Zaun war Schluss"
Der Freiburger André Kaiser hat 1982 als 17-Jähriger versucht aus der DDR zu fliehen, wurde erwischt – und saß in Haft. Nun spricht er darüber als Zeitzeuge in Schulen.
Maya Hinz & Leah Sachs
Fr, 30. Okt 2020, 14:51 Uhr
Deutschland
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Zisch: Wie sind Sie auf die Idee gekommen zu fliehen und warum?
Kaiser: Als Deutschland noch geteilt war, wohnte ich auf der Ostseite, wo das Leben nicht so prickelnd war. Es gab eine harte Regierung, und unser Leben war sehr beeinträchtigt. Ich hatte früh den Wunsch, auf die andere Seite zu kommen, und der hat sich im Laufe der Jahre immer mehr verstärkt, so dass ich mit meinem Freund irgendwann den Entschluss gefasst habe abzuhauen.
Zisch: Haben Sie sich von Ihren Eltern verabschiedet?
Kaiser: Nein, man durfte es niemandem sagen, es war sehr gefährlich. Meine Mama hätte große Angst um mich gehabt, weil an der Grenze geschossen wurde. Es gab Minen, auf die man treten konnte, die einem die Beine weggerissen hätten. Man durfte seine Fluchtpläne niemandem anvertrauen, weil es auch Menschen gab, die einen verraten hätten. Dann wäre man sofort ins Gefängnis gekommen.
Zisch: Was hatten Sie auf der Flucht dabei?
Kaiser: Wir hatten nicht viel dabei, nur einen kleinen Rucksack mit etwas Verpflegung, Geld und Werkzeug. Wir sind über zwei Grenzen geflohen, von der DDR in die Tschechoslowakei und von dort nach Österreich. Das war die gefährliche Grenze. Die war stark bewacht mit Stacheldraht, hohen Zäunen, Hunden und Wachtürmen. Wir hatten eine Schere dabei, weil wir dachten, wir können den Zaun kaputtmachen und durchkrabbeln, aber da sind wir mit unserem Werkzeug nicht gut durchgekommen.
Zisch: Wie weit sind Sie gekommen?
Kaiser: An der Grenze zu Österreich nur über den ersten Zaun. Dann war schon Schluss, und es kamen die Soldaten.
Zisch: Wie hat es sich angefühlt, als jemand eine Waffe auf Sie gerichtet hat?
Kaiser: Das kann man schwer beschreiben. Natürlich hatte ich ganz viel Angst, und es ist ein sehr, sehr unangenehmes Gefühl, dass derjenige, der seine Waffe auf dich richtet, auch aus Versehen den Auslöser drücken könnte.
Zisch: Was dachten Sie, als Sie erfuhren, dass Sie drei Jahre ins Gefängnis müssen?
Kaiser: Oje. Am Anfang war mir das gar nicht bewusst, denn drei Jahre sind eine extrem lange Zeit. Dreimal Geburtstag, dreimal Weihnachten... Die Vorstellung, dass ich unter diesen harten Bedingungen im Gefängnis sein sollte, war für mich völlig unvorstellbar.
Zisch: Was haben Sie den ganzen Tag in der Zelle gemacht?
Kaiser: Das war gar nicht so einfach. In einer Zelle, in der es nichts gibt, keine Zeitung, kein Buch, kein Handy, keine Playstation, nur einen Hocker und einen Tisch – da ist so ein Tag ganz schön lang. Du läufst wie ein Tier im Käfig hin und her, machst Liegestütze, kannst nicht aus dem Fenster schauen, du darfst am Tag nicht auf dem Bett liegen, kannst eigentlich gar nichts machen. Einmal am Tag durfte man für eine halbe Stunde raus in eine Art Hof. Wir nannten das den Tigerkäfig. Es gab vier Meter hohe Mauern um einen herum. Man konnte fünf Schritte laufen und dann wieder zwei. Das war echt klein. Oben waren ein Maschendrahtzaun und Schließer, die dich bewacht haben. Trotzdem war das mein Highlight! Wenigstens mal frische Luft und ab und zu einen Vogel piepen hören.
Zisch: Haben Sie den Fluchtversuch bereut?
Kaiser: Nein, nie. Ich habe gedacht, wir haben es versucht, es hat nicht funktioniert und jetzt haben wir wenigstens die Chance, freigekauft zu werden. Damals hat die BRD 40.000 DM für einen politischen Gefangenen an die DDR bezahlt. Wir saßen in einem Gefängnis, in dem es keine Kriminellen gab, sondern nur politische Gefangene, Menschen, die einer anderen Meinung als die Regierung waren, oder die versucht haben, abzuhauen. Es gab viele Musiker, Ärzte, Ingenieure, Studenten oder Schüler wie ich. Eine bunte Mischung, aber alles Menschen, die zu Unrecht im Gefängnis saßen.
Zisch: Sie sind ein anerkannter Zeitzeuge. Was ist das?
Kaiser: Zeitzeugen sind Menschen, die aus einer vergangenen Zeit erzählen, damit man sich an sie erinnert. Ich habe 20 Jahre in der DDR gelebt und im Gefängnis gesessen. Die DDR gibt es nicht mehr, aber damit man nicht vergisst, wie es war, gehe ich an Schulen und berichte, was ich erlebt habe – so wie jetzt euch.
Zisch: 30 Jahre deutsche Einheit – wie fühlt sich das für Sie an?
Kaiser: Das sind 30 Jahre, in denen sich viel verändert hat zum Positiven, und ich bin sehr froh, dass es so ist.
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