"Das größte humanitäre Desaster"

Die UNO schlägt wegen des Jemen Alarm / Sie befürchtet eine verheerende Hungersnot / Vor allem Saudi-Arabien ist schuld daran.  

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Kriegsversehrte Mädchen im Jemen probieren Prothesen aus.  | Foto: DPA
Kriegsversehrte Mädchen im Jemen probieren Prothesen aus. Foto: DPA

KAIRO/SANAA. Mit dem mutmaßlichen Staatsmord an dem saudischen Journalisten Jamal Khashoggi rückt auch der "vergessene Krieg im Jemen" wieder ins internationale Rampenlicht, den Kronprinz Mohammed bin Salman im März 2015 vom Zaun brach und den die UNO als das "größte humanitäre Desaster der Gegenwart" bezeichnet. Mit im Fokus stehen auch die USA und Großbritannien, ohne deren Waffenlieferungen Saudi-Arabien diesen verheerenden Feldzug niemals führen könnte.

Wie ist die humanitäre Lage?
Die UN-Hilfekoordinatorin in Sanaa schlägt Alarm. Wenn die saudische Seeblockade nicht gelockert und die Luftangriffe nicht gestoppt würden, "droht dem Jemen eine Hungersnot, wie es sie in den letzten 100 Jahren nicht gegeben hat", warnt Lise Grand. "Viele haben gedacht, so etwas sei im 21. Jahrhundert nicht mehr denkbar, und jetzt passiert genau das." 14 Millionen Jemeniten, die Hälfte der Bevölkerung, werden bis Ende 2018 nicht mehr genug zum Überleben haben, erklärte ihr Chef Mark Lowcock vor dem UN-Weltsicherheitsrat und zeichnete ein düsteres und schockierendes Bild. "Wir verlieren den Kampf gegen den Hunger."

Seit Anfang 2018 büßte die Landeswährung Yemeni Rial die Hälfte ihres Wertes ein, was Lebensmittel für iviele Menschen unerschwinglich macht. 80 Prozent der Jemeniten leben unterhalb der Armutsgrenze, vor dem Krieg waren es 38 Prozent. Die Hälfte der Krankenhäuser ist zerstört. Im Oktober 2016 brach eine Cholera-Epidemie mit bisher 1,2 Millionen Erkrankten aus, die rund 2500 Todesopfer forderte.

Was war der Auslöser
für den Konflikt?

Der Krieg hat seine Wurzeln in Missständen im Jemen und ist gleichzeitig ein Stellvertreterkrieg zwischen Saudi-Arabien und dem Iran. Die international anerkannte Regierung des im Exil lebenden Präsidenten Abed Rabbo Mansour Hadi wird von einer Koalition unter Führung von Saudi-Arabien unterstützt. Die Huthis aus dem Norden stehen mit dem Iran im Bunde. Dritter wichtiger Machtfaktor ist die Bewegung Hirak. Sie will zurück zu einem unabhängigen Südjemen, wie er vor der Wiedervereinigung 1990 existierte. Bereits sechsmal führten die Huthis zwischen 2004 und 2010 Krieg gegen die Hauptstadt Sanaa, weil sie sich diskriminiert fühlten. Nach dem Arabischen Frühling 2011 kam Bewegung in den Konflikt, als eine "Konferenz des Nationalen Dialogs" eine neue Verfassung ausarbeitete. Diese sollte eine föderale Struktur schaffen und für mehr Gerechtigkeit zwischen den Provinzen sorgen. Doch am Ende konnten sich die Beteiligten nicht einigen. 2014 platzte der Huthi-Führung der Kragen. Sie ließ ihre Krieger in Sanaa einmarschieren. Als Präsident Hadi 2015 aus der Hauptstadt floh, erklärte Mohammed bis Salman den Besatzern den Krieg.

Welche Rolle spielt der
saudische Kronprinz?

Mohammed bin Salman gilt als der Architekt des Feldzuges, der 60 Milliarden Dollar pro Jahr verschlingt. Militärisch herrscht ein Patt, auch weil die hochgerüstete Armee des Königreiches mit den Stammeskriegern der Huthis nicht fertig wird. Nun soll die Eroberung von Hudeidah am Roten Meer, über dessen Hafen 80 Prozent der Einfuhren und Hilfsgüter ins Land kommen, den Konflikt zugunsten der Salman-Koalition entscheiden. Seit vier Monaten wird die Stadt bombardiert. Eine halbe Million Bewohner sind auf der Flucht. Die wichtige östliche Frachtstraße vom Hafen ins Landesinnere ist bereits unpassierbar geworden.

Welche Mitverantwortung
hat der Westen?

Für Charles Lister von der renommierten Brookings Institution gibt es keinen Zweifel. "Wenn Washington und London König Salman heute Abend sagen, der Krieg muss enden, wäre er morgen vorbei", urteilt der Nahost-Experte. Denn der Löwenanteil der saudischen Waffen stammt aus diesen beiden Staaten. Ohne US- Tankflugzeuge könnten die saudischen Jets längst nicht so häufig über dem Jemen operieren. 7500 Mal waren die fliegenden US-Zapfsäulen vor Ort im Einsatz. Im militärischen Einsatzzentrum von Riad assistieren amerikanische und britische Spezialisten bei der Zielsuche. Trotzdem haben die Saudis bei ihren 18 000 Angriffen ein Debakel angerichtet, das eine UN-Kommission kürzlich als mögliche Kriegsverbrechen wertete. Nur ein Drittel aller Raketen traf militärische Ziele. 90 Prozent der Opfer waren Kinder und Familien, Hochzeitgesellschaften und Trauergemeinden, Krankenhausärzte und ihre Patienten. Im März 2018 nahmen demokratische US-Senatoren zum ersten Mal einen Anlauf, den Krieg zu beenden. Die Abstimmung ging mit 44 zu 55 verloren.

Merkel rügt Saudis

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat der Bundesregierung zufolge in einem Telefonat mit dem saudi-arabischen König Salman die Tötung des Journalisten Jamal Khashoggi "aufs Schärfste" verurteilt. Nach Angaben vom Donnerstagabend forderte sie in dem Gespräch, "eine rasche, transparente und glaubhafte Aufklärung sicherzustellen". Alle Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden. Weiter hieß es in der Mitteilung: "Im Lichte der laufenden Entwicklungen des Falles stehe Deutschland bereit, zusammen mit internationalen Partnern angemessene Maßnahmen zu ergreifen."
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