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Kalte Platte

Wie Wohnungslose in Freiburg wieder sesshaft werden wollen

Genug gefroren: Zwei junge Wohnungslose versuchen, mit Hilfe eines Freiburger Modellprojekts wieder einen festen Wohnsitz zu bekommen. Es wäre ein Schritt in ein neues Leben.  

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Obdachloser in Freiburger Tiefgarage  | Foto: Ingo Schneider
Obdachloser in Freiburger Tiefgarage Foto: Ingo Schneider
Ein Februarmorgen, neun Uhr in Freiburg: Die Stadt präsentiert sich klar und schön unter einem makellos blauen Himmel. Nur die Luft ist bissig. Zweistellig unter null frisst sie sich durch die Kleidung. Unter einem Eisenbahnbrückenpfeiler, versteckt hinter Gestrüpp, richten sich Andi, klein, schelmisches Lachen, bunte Flechtzöpfe über der Stirn, und Langer, Zweimeter-Schlacks, dünn, spitzes Kinnbärtchen, gähnend von ihrem Freiluftlager auf.

Heißer Kaffee – ein Luxus

Die beiden 20-Jährigen machen Platte. Sie sitzen in doppelten Schlafsäcken zwischen alten Milchpackungen, riesigen Cornflakeskartons, Büchern und verstreut liegenden Klamotten auf graufleckigen Matratzen. "Eigentlich sind wir gar nicht obdachlos, uns fehlt nur eine Wand." Langer grinst und zeigt nach vorne. Ein Stück schwarzer Stoff hängt da schlapp herunter. Er trennt die beiden notdürftig von einem Abhang voller Unrat, der an manchen Stellen Toilette und an anderen Kochplatz ist, und an dessen Fuß die Bahngleise entlang führen. Die zwei beteuern, dass sie es warm genug haben im Freien. Unten rum stecken sie noch in ihren Schlafsäcken. Nach ein paar Minuten oben ohne beginnt dann aber doch das große Zähneklappern.

Sozialarbeiter Christoph Syri von der Freiburger Straßenschule – sich selbst schreibt sie etwas gekünstelt: StrassenSchule – bringt heißen Kaffee und belegte Brötchen. Absoluter Ausnahmeluxus, den es nur gibt, weil eine Reporterin dabei ist. Christoph Syri begleitet die Pressebesucher seiner Klienten. Er will sie schützen. Das ist eines der Anliegen der Freiburger Straßenschule, die sich seit 15 Jahren vor allem spendenfinanziert um junge Menschen ohne festen Wohnsitz kümmert, seit 2009 in Trägerschaft des SOS Kinderdorfes Schwarzwald.

92 junge Obdachlose unter 25 lebten gemäß der letzten Erhebung der Liga der Freien Wohlfahrtsverbände Baden-Württemberg Ende September in Freiburg. Gezählt wurden Hilfesuchende, die am Stichtag in den sozialen Einrichtungen erschienen sind oder registriert waren. Eine Messung mit Schwächen, erklärt Magdalena Wolf, die kommissarische Leiterin der Straßenschule, weil nie alle Wohnungslosen am Stichtag die Einrichtungen anliefen. Die Dunkelziffer dürfte nicht unerheblich sein.

Vertrauen nicht missbraucht

Die meisten jungen Obdachlosen in Freiburg sind volljährig. Aber hin und wieder treffen die Mitarbeiter der Straßenschule auch Minderjährige an. Viele von ihnen werden polizeilich gesucht. Ein Konflikt für die Streetworker, denn zum Schutz ihrer Klienten unterliegen sie einer gesetzlich vorgeschriebenen Schweigepflicht. Zudem sind sie auf das Vertrauen der Jugendlichen angewiesen, wenn sie erfolgreich arbeiten wollen. Erkundigen sich also Eltern oder die Polizei nach einem vermissten Kind, wird dieses über den Vorgang informiert, aber nicht verpfiffen. "Wir bemühen uns zu vermitteln", sagt Magdalena Wolf. Die jungen Leute sollen merken, dass man ihr Vertrauen nicht missbraucht.

Andi und Langer schlürfen mit kleinen Augen unter Kapuzen bibbernd ihren Kaffee. Christoph Syri treibt die beiden an. Andi will heute einen Antrag für einen Platz im Wohnprojekt der Straßenschule stellen und hat um zehn Uhr einen Termin in der Zentralen Fachberatungsstelle für wohnungslose Menschen. Langer braucht für das Wohnprojekt eine Bescheinigung von der Jugendagentur des Jobcenters.

Beide wollen möglichst bald von der Straße runter. Langer möchte sich nicht irgendwann sagen müssen, dass er immer nur auf dem untersten Level gelebt hat. Er will sich mal was leisten können. Einen Urlaub. Einen Führerschein. Darum will er jetzt in die 69 einziehen. Das ist die Hausnummer des Wohnprojekts, in dem es für sieben junge Ex-Obdachlose je ein kleines Zimmer gibt. Eine WG, betreut durch einen anwesenden Sozialarbeiter.

Den Hauptschulabschluss nachholen

Langer möchte am liebsten eine Ausbildung im sozialen Bereich machen. Etwas mit Behinderten könne er sich gut vorstellen, sagt er. Sein jüngerer Bruder ist körperbehindert. Allerdings steht ihm aktuell noch eine Schlägerei unter Alkoholeinfluss im Weg. Der 20-Jährige ist wegen Körperverletzung zu einer Geldstrafe verurteilt worden, die er demnächst in Arbeitsstunden abzuleisten hat. Dabei wirkt der junge Mann im persönlichen Kontakt eher sanft und in sich gekehrt. Schlägerei, Körperverletzung? Kaum vorstellbar. Andi will ab September in der Schule seinen Hauptschulabschluss nachholen. Vom Wohnprojekt aus könnte das klappen.

Das Wohnprojekt ist der vielleicht wichtigste und hoffnungsvollste Zweig der Straßenschule, die Einstiegshilfe in ein neues Leben. Die Stadt Freiburg übernimmt die Betreuungskosten für die Bewohner und zahlt auch einen kleinen Zuschuss für Personal- und Sachmittel. Aber aus Sicht der Sozialarbeiter ist das noch nicht genug. In Freiburg, klagen sie, sei der Bedarf an Plätzen für betreutes Wohnen deutlich höher als das bestehende Angebot. Sozialbürgermeister Ulrich von Kirchbach verweist auf einen Arbeitskreis mit Vertretern aus Wohnungslosenhilfe und Jugendhilfe, die sich derzeit mit dem Thema beschäftigen. "Kommt man hier zu dem Schluss, dass tatsächlich weitere Plätze nötig sind, haben wir noch Spielraum."

Das pädagogische Konzept der Freiburger Straßenschule sieht vor, die Lebensentwürfe der jungen Menschen grundsätzlich zu akzeptieren – auch deren Entscheidung, auf der Straße zu leben. Die Sozialarbeiter definieren sich selbst in der Arbeit mit den jungen Wohnungslosen als Impulsgeber. Die Betroffenen sollen motiviert werden, Dinge anzugehen, bekommen aber nichts aufgezwungen oder Wege vorgegeben. "Denn wenn sie diese Wege nicht selbst gewählt haben, dann gehen sie die auch nicht mit", sagt die Leiterin der Straßenschule Magdalena Wolf. Eigenverantwortung ist das Zauberwort.

Ankleiden und Morgentoilette sind bei einer Kälte wie an diesem Morgen eine Sache von Sekunden. Andi und Langer erreichen gegen zehn die Stadtmitte. Während Andi umsteigt und zum Treffpunkt mit einer anderen Sozialarbeiterin weiterfährt, bemüht sich Langer, rauchenden Passanten eine Zigarette abzuschwatzen. Er pirscht sich an, tänzelt neben ihnen her und setzt ein freundlich-verbindliches Lächeln auf. "Entschuldigung, hätten Sie vielleicht eine Zigarette für mich?" Er hat keinen Erfolg. Viele rauchen angeblich gerade ihre Letzte. "Vorführeffekt", sagt Langer.

Aber trotz der extremen Kälte, eine Nacht bei Freunden unterzuschlüpfen, kommt für den langen Kerl nicht in Frage, da schüttelt er entschieden den Kopf. "Frühestens ab fünfundzwanzig Grad minus. Wir belächeln Leute, die behaupten, sie machen Platte, um dann abends ins Warme zu verschwinden."

Das klingt nach Prinzipien. Und ein bisschen nach Stolz und Ehre. Magdalena Wolf zieht die Augenbrauen hoch. "Vielleicht, aber wer glaubt, das Straßenleben ist für die Jugendlichen nur ein aufregendes Abenteuer, der irrt." Ihren Beobachtungen nach bedeutet es eher ziemlichen Stress: Den Tag gestalten, Leute um Kleingeld anschnorren, sich dabei von Bürgern beleidigen lassen müssen, rechtzeitig die entsprechenden Anlaufstellen erreichen, um sich dort waschen und eine warme Mahlzeit kochen zu können, und so weiter.

"Der Übergang von der Straße in eine feste Wohnform ist für viele auch nicht ohne", fügt Christoph Syri hinzu. Oft begrüßt einen erstmal eine deftige Infektionskrankheit. Dann kommen unangenehme Briefe von Polizei oder Gläubigern – die Quittungen für das Fehlverhalten auf der Straße. Plötzlich scheidet die Möglichkeit aus, einfach in der Anonymität zu verschwinden. Straßenromantik? "Manchmal", sagt Magdalena Wolf, "am Anfang. Und im Sommer. Aber nach ein paar Wochen ist selbst dann bei den meisten Schluss damit."

Was treibt junge Menschen dazu, sich das harte Leben auf der Straße anzutun? "Nicht, dass ich keinen Bock mehr auf meine Familie hatte, ich wurde rausgeworfen. Ich war ein schwieriges Kind", erzählt Andi auf dem Weg zur Straßenbahn. In seiner Kindheit, berichtet er, wurde vieles mit Gewalt geregelt. Vor allem von seinen Brüdern bekam er "viel in die Fresse".

Die Straße: Fluchtpunkt für die Ungewollten

Mit dreizehn folgt ein Psychiatrieaufenthalt, vom vierzehnten Lebensjahr an pendelt er zwischen Heim, Zuhause und Straße, wo er von "den Bullen" immer wieder eingesammelt und zurückgebracht wird. Mit achtzehn wirft die Mutter ihn endgültig raus. Seit zwei Jahren ist die Straße Andis einziges Zuhause.

Langer kommt wegen des Alkoholismus des Vaters schon mit knapp zwei Jahren in eine Pflegefamilie. Hier lebt er "richtig gut". Trotzdem zieht er mit siebzehn zurück in die Nähe seiner Mutter. Will ihr und dem Familienleben noch mal eine Chance geben. Aber mit dem neuen Partner der Mutter kommt es immer wieder zu gewalttätigen Reibereien. Schlichten kann oft nur die Polizei. Schon damals weicht Langer immer wieder auf die Straße aus. Seit sieben Monaten macht er ausschließlich Platte. Die Erfahrungen, die er in dieser Zeit gesammelt hat, will er nicht missen. "Ich finde es spannend zu erleben, wie es ist, zu dem Teil der Bevölkerung zu gehören, der sich nichts leisten kann."

Inzwischen steht er, schwarze Hose, schwarze Outdoorjacke, Käppi und Turnschuhe, vor dem Eingang der Jugendagentur des Jobcenters. Seine Obdachlosigkeit sieht man ihm nicht sofort an. Er zieht hastig an einer endlich ergatterten Zigarette und steigt dabei frierend von einem Fuß auf den anderen. Drinnen erfährt er, dass er am Nachmittag wiederkommen muss. Die entsprechende Stelle öffnet erst um zwei.

Christoph Syri kennt den Sachbearbeiter und ruft ihn kurzerhand vom Handy aus an. Der Mann ist gutmütig und leitet so weit alles in die Wege, damit Langer zumindest an diesem Tag nicht noch einmal kommen muss und stattdessen seinen Wohnprojektantrag in der Anlaufstelle der Straßenschule vorantreiben kann.

Betteln ist für ihn zurzeit nicht drin. Der 20-Jährige will jobben, da möchte er in der Stadt nicht von potentiellen Arbeitgebern als Wohnungsloser identifiziert werden. "Ein ewiger Teufelskreis", bestätigt Christoph Syri. "Ohne Job gibt’s keine Wohnung, aber ohne Wohnung gibt’s auch keinen Job."

"Manchmal haben die jungen Wohnungslosen keine andere Wahl, als zu schnorren", sagt Magdalena Wolf. "Zum Beispiel ist es für sie schwierig, Arbeitslosengeld II zu bekommen, wenn die Eltern noch unterhaltspflichtig sind. Oder das Kindergeld fließt zu den Eltern, aber die jungen Menschen haben gar keinen Kontakt mehr zu ihnen."

Viele kommen aus Familien, in denen Alkoholexzesse, Drogensucht, Gewalt und Armut den Alltag bestimmen. Oft zahlen diese Eltern freiwillig kein Geld an ihre Kinder, weil sie schlicht selbst nicht genug haben oder nicht mit Geld umgehen können. In solchen Fällen raten die Ämter den Jugendlichen manchmal, das Geld von den Eltern einzuklagen, was laut Wolf nur die Wenigsten übers Herz bringen.

Wie jeden Tag schließt die Anlaufstelle der Straßenschule an diesem Tag um 17 Uhr. Andi und Langer werden dann noch zum Bahnhof gehen. Da trifft man sich abends mit Freunden. Von da werden sie vielleicht noch in eine Bar ziehen und später wieder nach Hause. Unter den Brückenpfeiler. "Und dann schnell mit Taschenlampe und Buch in die Schlafsäcke."

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Ressort: Südwest

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