Schießübungen
Im "Patriot Park" begeistert Russland seine Jugend fürs Militär
Kalaschnikows, Scharfschützengewehre und Panzer: Bei Moskau hat das russische Verteidigungsministerium eine Art Militär-Disneyland gebaut – inklusive dem größten Schießstand des Landes.
Florentin Schumacher & Emile Ducke
Sa, 14. Mär 2020, 16:54 Uhr
Ausland
Thema: BZ-Langstrecke
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Deckung. Ratschend nachladen. Durchatmen. Rausspringen. Bamm, bamm – tot. Die Elektrosonden am Stirnband des Jungen vibrieren und leuchten rot. Sein Gegner auf der anderen Seite des Hauses hat ihn getroffen. Das Spiel ist vorbei. Der Krieg nicht. Ist er hier ja eigentlich nie.
Bereit sein. Für den Ernstfall. Sich verteidigen können. Gegen Aggression von außen. Die Vokabelliste des "Patriot Parks".
Eine Autostunde entfernt von Moskau, auf einem 55-Quadratkilometer-Areal fast so groß wie die Stadt Pirmasens, hat das russische Verteidigungsministerium eine Art Militär-Disneyland errichtet. Der "Patriot Park" bietet eine absurde Mischung aus Militärgeschichtsmuseum und Ausstellung russischer Hightech-Waffen, ist gleichzeitig Vergnügungspark für Familien und Trainingszentrum aktiver Soldaten. Ein überdimensioniertes Volksarmeefest: mit Häuserkampf statt Hüpfburgen.
Neben Spiel- und Sportplätzen sowie Hallen für Paintball und Lasertag gibt es auf dem Gelände den größten Schießstand Russlands und einen Testbereich der Firma Kalaschnikow, um Kunden die neuesten Waffen vorzuführen, bewacht von Sicherheitsleuten, wie sie nur Waffenhersteller haben: Riesenmänner ohne Mimik.
Phänotyp Militärausbilder, schönster Urlaub des Lebens: Tschetschenienkrieg.
Ach ja, und einen Reichstag, den gibt es auch. Einen Nachbau inmitten einer matschigen Wiese. Ein paar Mal im Jahr stürmen ihn, die Eroberung Berlins im Mai 1945 nachspielend, Rotarmisten-Darsteller, von Zuschauern auf Tribünen angefeuert, und hissen auf der Kuppel die Rote Fahne. Auf einer Lichtung, irgendwo im russischen Birkenwald, weht dann die Hammer-und-Sichel-Flagge der Sowjetunion über einem deutschen Reichstag. Politiker in Deutschland finden das nicht so gut.
Potenziert wird die Absurdität bloß durch noch absurdere Veranstaltungen im Park wie die "Army International Games". Eine Militärolympiade, bei der sich einmal im Jahr die sympathischen Truppen von Ländern wie Iran, Kasachstan und China mit der russischen Armee messen. Neben dem Panzer-Biathlon kommt es unter anderem zu actionreichen Duellen im Zubereiten der schmackhaftesten Feldküchengerichte.
Nicht zu vergessen natürlich das "Army Forum", eine der größten Militärmessen der Welt. Eine Woche lang zeigen Aussteller ihre Lenkwaffensysteme, Scharfschützengewehre und energiereichen Notnahrungsriegel. Mit den halbglatzigen Männern (Kunden) und den überschminkten Frauen (Messehostessen) wirkt das "Army Forum" ein bisschen wie die Sanitärfachmesse Nürnberg. Ein bisschen. Denn logischerweise ist es Russland, Militär, Waffen – also alles viel verrückter.
An einem Sonntagvormittag, langsam erwacht der Park mit den ersten Besuchern, klettert eine Handvoll Jungs in Ganzkörpertarnfleck auf einen von vielen Dutzend Panzer. Auf einer Parkbank sitzen ihre goldzahnigen Großväter, Veteranen mit Ordensbrüsten, die auf Deutsch grüßen: "Guten Morgen, Kameraden."
Aus dem 900 Kilometer entfernten Kasan sind sie angereist. Zehn Tage Opa-Enkel-Sommerferien, die Jungen sollen ihre Geschichte kennenlernen. Also die ihrer Urgroßväter, die in der Roten Armee gegen Nazideutschland kämpften, die ihrer Großväter, Soldaten des Kalten Krieges, und die ihrer Väter, deren Generation Russland in Tschetschenien, Georgien und Syrien, nun ja: verteidigt hat.
Ein paar Meter weiter fotografieren zwei südostasiatische Männer mit Goldrandbrillen und überweiten Anzughosen auffällig unauffällig die Infotafeln mit den technischen Daten vor jedem Panzer. Die Frage, ob sie Nordkoreaner seien, bejahen sie. Dann gehen sie eilig weiter.
Mit einer der vielen Buslinien durch den Park zu fahren, hat etwas Unwirkliches. Das Gelände erstreckt sich so weit in alle Richtungen, dass sich sogar am Wochenende die Besucher bald verlieren und der Park halbleer wirkt. Auf den perfekt geteerten Straßen kommt einem minutenlang kein Fahrzeug entgegen. Alle paar hundert Meter lassen sich an Stationen Fahrräder entleihen. Es entleiht nur niemand ein Fahrrad. In langen Reihen warten Busse auf Fahrgäste, die nie kommen werden, ihre Fahrer schlafen, die Arme auf dem Lenkrad gekreuzt. Ins Auge sticht die Übergrößenarchitektur autoritärer Staaten: Sogar die Schirmmützen der herumstehenden Offiziere, diese kreisrunden Deckel, erscheinen lustig groß.
Seltsamerweise macht gerade die Dauerpräsentation der Militärpotenz, machen die stramm gereckten Panzerrohre und aufgerichteten Raketenabschusssysteme, die Haubitzen und raubvogelartigen Helikopter, weniger Angst vor der Streitmacht der russischen Armee, im Gegenteil, das metallisch glänzende Gerät sorgt für leicht gleichgültige Ermattung: die Ermüdung durch Gewöhnung. Die Panzer im "Patriot Park" sind halt auch bloß eine etwas größere Eisenbahn der Modellbaufreunde Unterhaching. Ein nerdiges Hobby für Leute, die gern Bauanleitungen oder Infotafeln lesen.
Falls der "Patriot Park" darauf zielt, Russlands Militär zu normalisieren und sympathischer zu machen, gelingt das wunderbar. Ein paar Stunden im Park, und der Biopazifist ist gebrochen. Der Soldaten und Panzer sind einfach zu viele. Überall sind sie, also ganz normal. Was soll der Anblick eines jungen Soldaten, der im strömenden Regen stundenlang eine Zufahrt bewacht, auf die nie jemand einbiegen wird, auslösen, wenn nicht Demut für die Hingabe an einen brutal lebenszeitverschwendenden Idiotenjob? Spätestens nach dem Verzehr des Graupenfleischeintopfs aus der Feldküche schießt der Respekt für die tapferen Frauen und Männer in Uniform in nie geahnte Höhe.
Anders als in Deutschland sind in Russland Zivilgesellschaft und Militär eng verwoben. Es herrscht Wehrpflicht, und zuvor bilden ungefähr 5000 militärisch-patriotische Jugendclubs im Land Kinder und Teenager in Kampftechniken aus. Als Dachorganisation gründete das Verteidigungsministerium 2016 die Junarmija, auf Deutsch: Jugendarmee, eine Massenorganisation, die auf den Militärdienst vorbereiten soll und nach eigenen Angaben knapp 600.000 Jugendliche rekrutiert hat.
In der Uniform der Junarmija – rotes Polohemd, sandfarbene Cargohose und Springerstiefel – wartet Alina Schorowlja in einer Messehalle am Stand eines Computerherstellers. In einer abgedunkelten Kabine wollen sie und ein Freund ein Minivideo von sich drehen lassen, das sie dank Helm, Schutzweste und Plastiksturmgewehrrequisit als einsatzbereite Soldaten zeigt. Alina, eine blasse rothaarige Siebzehnjährige, trat vor zwei Jahren der Junarmija bei. Keine Ahnung, warum, aber sie wollte schon immer zum Militär. Einmal in der Woche geht sie zum Treffen ihrer Junarmija-Ortsgruppe, in den Sommerferien öfter, viel mehr gibt es in Alinas Dorf Worobjowo, knapp 100 Kilometer westlich von Moskau, eh nicht zu tun. Wie ist es so bei der Junarmija? Toll, sie sei kräftiger geworden, habe Freunde gefunden, erzählt Alina mit einem irritierend echt wirkenden Seligkeitslächeln, das man von Angehörigen von Sekten kennt. Inzwischen könne sie in 35 Sekunden eine Kalaschnikow zusammen- und auseinanderbauen.
"35 Sekunden?" Der Mann hinter ihr in der Reihe schaut belustigt. "Als ich gedient habe, habe ich acht, höchstens neun Sekunden gebraucht." Verbindende Gesprächsthemen auf einer russischen Waffenmesse. Viele Russen lernen schon in der Schule, eine AK aufzubauen. Kulturgut Kalaschnikow.
In dieser Welt wundert es dann auch nicht mehr so sehr, als an einem Regennachmittag hunderte Parkbesucher von einer Reihe Tribünen auf ein weites Matschfeld schauen. Auf einer Bildschirmtafel vergrößert und von einem Kommentator mit Kommentatorenaufregung kommentiert, rasen Schlamm spritzend die Panzer vorbei, um dann, ein markerschütternder Schlag, ihre Geschosse ins Feld zu feuern, schlingernde Feuerbälle, die in der Ferne als Rauchwölkchen auftreffen. Vom Himmel schießen Helikopter ihre Raketen herab. Jets winden sich im Flug um die eigene Achse. Und auf der Tribüne heben Väter ihre Söhne auf die Schultern, kuscheln Paare gegen die Kälte an, streamen elegante im Balenciagastil gekleidete Frauen ihren Sonntagnachmittagsausflug fürs Instagram-Publikum. Normal. Manche gehen am Wochenende ins Fußballstadion – andere schauen durch Schlamm spritzenden Panzern zu.
In einer ruhigeren Einlage der Show stellt ein Soldat vor den Tribünen einen Holztisch auf. Er legt eine Wassermelone darauf, und ein Panzer fährt an den Tisch heran. Langsam senkt sich sein Rohr. Ein Stück und, ruckend, noch ein Stück. Dann spaltet das herabfallende Panzerrohr die Melone zielsicher in der Mitte. Als der Soldat die Hälften hoch über den Kopf hält, brandet Jubel auf über das Geschick des Panzerrohrpiloten. Wobei man sich schon fragt, in welcher Art Konflikt die Kampftechnik des Melonenspaltens zum Einsatz kommt.
Also ich frage mich das. Ich, der friedliebende, antimartialische Reporter. Der trotz großen Bemühens nicht zum Kriegsbegeisterten werden will. Alle Versuche enden enttäuschend. Mit der Kalaschnikow rumballern (mit der Kalaschnikow Platzpatronen rumballern, Munition mit Projektilen dürfen im Park nur Russinnen und Russen verschießen) – voll nervig und anstrengend: der Rückstoß, die ums Gesicht spritzenden Patronenhülsen, der fiese, metallische KNALL.
Am Scharfschützengewehr: Zig Rädchen müssen irgendwie auf Windstärke, Windrichtung, Kaliber, Zielentfernung, Neigungswinkel und weitere unverständliche Dinge abgestimmt werden. Saukompliziert. Bald langweilig. Und wofür? Einen weiteren ohrenbetäubenden KNALL.
Eine realistische Einschätzung meiner Kampffähigkeiten führt mich in eine Halle mit Jeeps und Sandsäcken, wo sich Vierzehnjährige mit Schaumstoffpfeilen aus Plastikpistolen abschießen. Und ich sie. Die Pfeile knallen wenigstens nicht. Ehrlich gesagt schießen die Vierzehnjährigen mich ab. Während ich davonrenne wie ein Huhn.
Ob er mich nehmen würde, frage ich später den Offizier am Anwerbestand, wo sich Interessierte informieren und für den Militärdienst verpflichten können. Der Offizier schaut und schweigt, als müsse er überlegen, wie er das sagen soll. "Grundsätzlich können Ausländer der Armee beitreten. In manchen Bereichen", sagt der Offizier. "Wir würden Sie nehmen als" – er rudert mit den Armen – "einfacher Soldat."
So, so. Einfacher Soldat. Ein schönes Synonym für: Kanonenfutter. Ja, so ähnlich habe ich meinen Wert im Kriegsfall eingeschätzt. Menschenmaterial. Ich will zurück in die Zivilisation.
In den Abteilen des Vorstadtzugs, auf dem Weg nach Moskau, leuchten die Displays der Smartphones, und aus ihren Lautsprechern knattert blechern das Rattern von Kalaschnikows.
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