Indien
Hochzeit – ob er will oder nicht
In der indischen Region Bihar werden Männer entführt und zur Heirat gezwungen. Oft hat die Familie der Braut kein Geld für die Mitgift.
Nick Kaiser
Mi, 28. Feb 2018, 22:04 Uhr
Panorama
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Es ist Hochzeitssaison in Indien. In Patna, der Hauptstadt des nordöstlichen Bundesstaates Bihar, ist das nicht zu überhören. Fast jeden Abend fahren Wagen mit aufeinander gestapelten Lautsprechern, aus denen Hindi-Pop-Musik dröhnt, die Straßen auf und ab. Trommler und Feuerwerkskörper machen den ohrenbetäubenden Lärm komplett. Vinod Kumar bekommt bei alldem ein mulmiges Gefühl.
Der 29 Jahre alte Ingenieur war am dritten Dezember aus dem benachbarten Bundesstaat Jharkhand nach Patna gekommen, um die Hochzeit eines Freundes zu besuchen. Noch am selben Abend heiratete er selbst – unverhofft und gegen seinen Willen, wie er sagt. Er war Opfer eines Phänomens geworden, das Zwangsehe oder auch "Bräutigam-Entführung" genannt wird.
Als sein Vater im Januar 2017 im Koma lag, habe sich ihm im Krankenhaus ein Mann namens Surender als Freund des Vaters vorgestellt, erzählt Kumar. Der Kontakt blieb ihm zufolge auch nach dem Tod des Vaters bestehen und Surender bot ihm immer wieder Hilfe durch angebliche Kontakte in die Politik an. Als Kumar dann zur Hochzeit seines Freundes nach Patna fuhr, lud ihn Surender auf einen Tee zu sich nach Hause ein.
Dort hätten Surender und mehrere von dessen Familienangehörigen ihn auf einmal gepackt, ihm das Handy abgenommen und ihn in ein Zimmer gesperrt. "Ich habe ihn gefragt: ,Was willst du von mir?’, und er hat gesagt: ,Du musst meine Schwester heiraten’", erzählt Kumar. Seine Entführer hätten ihn geschlagen und gedroht, ihn umzubringen, wenn er sich wehre. Sie hätten Waffen gehabt.
Nach einem Bericht der indischen Nachrichtenagentur IANS war Kumar einer von rund 3400 entführten Bräutigamen im vergangenen Jahr in Bihar – ein armer Bundesstaat mit rund 100 Millionen Einwohnern und dem Ruf, gesetzlos zu sein. Am schlimmsten sei es im Zuge einer Agrar-Krise in den 1980er Jahren gewesen, erklärt Rupesh, Chef der gemeinnützigen Organisation Koshish in Bihar. Damals begannen ihm zufolge Söhne von Bauern, zu studieren und gute Jobs zu bekommen. Dadurch stieg ihr Wert als Ehemänner und viele Familien von jungen Frauen konnten sich die zwar seit 1961 in Indien verbotene, aber dennoch gängige Zahlung einer Mitgift nicht mehr leisten.
Die Verheiratung der Kinder, meist durch arrangierte Ehen, ist von enormer Bedeutung für indische Familien. Deshalb ergriffen einige Eltern in Bihar drastische Maßnahmen, um ihren Töchtern doch noch gutsituierte Ehemänner zu verschaffen: Sie entführten die auserwählten Männer, oder heuerten dafür Gangster an, und zwangen sie zur Heirat. Nicht selten setzten sie ihnen wortwörtlich die Pistole auf die Brust. Rupesh zufolge kam das in den Achtzigern alle zwei oder drei Tage vor.
Im Internet kursiert ein Video, das zeigt, wie Vinod Kumar weinend die Riten einer Hindu-Hochzeit über sich ergehen lässt, während Menschen um ihn herum an ihm zerren. Auch die Braut sieht unglücklich aus. Er habe kein Wort mit ihr gewechselt, sagt Kumar. "Wenn man mich gezwungen hätte, einen Büffel zu heiraten, wäre es dasselbe gewesen."
Die Nacht verbrachte er eingesperrt, wie er weiter erzählt. Am nächsten Morgen wurde er gezwungen, seinen Bruder anzurufen und ihm zu sagen, er habe geheiratet – und zwar freiwillig. Der Bruder roch, dass etwas faul war, und ging zur Polizei. Die steckte allerdings laut Kumar mit den Entführern unter einer Decke. Polizisten seien in Surenders Haus gekommen und hätten auf ihn eingeredet, er müsse die Ehe akzeptieren. Sonst könne ihm Böses widerfahren.
Dass ihn die Polizei an dem Abend dann doch noch befreite, hat Kumar nach seiner Darstellung seinen Angehörigen und Freunden zu verdanken, die in sozialen Medien auf den Fall aufmerksam machten und dafür sorgten, dass das Lokalfernsehen berichtete.
Üblicherweise wird der entführte Bräutigam Rupesh zufolge gezwungen, die Ehe durch Geschlechtsverkehr zu vollziehen. Oft blieben die Paare zusammen – vor allem wegen des sozialen Drucks, den als heilig geltenden Bund nicht zu brechen. Weil die Praxis aber auch zu Konflikten in den Familien geführt habe, erklärt Rupesh, habe die Zahl der Fälle von "Bräutigam-Entführung" in den vergangenen Jahren abgenommen.
Dennoch ist es Vinod Kumar passiert – weil er mit seinem Job als Juniorchef eines staatlichen Stahlwerks ein guter Fang ist und Surenders Schwester mit Mitte 40 nicht mehr an einen Ehemann zu vermitteln war, wie er sagt. Kumar konnte entkommen. Die Entführer aber sind bislang nicht zur Rechenschaft gezogen worden. Surender rufe ihn regelmäßig an und drohe ihm, sagt Kumar.
Der mutmaßliche Täter werde gesucht, habe sich aber aus dem Staub gemacht, erklärt der Chef der zuständigen Polizeiwache, Vishwakarma. Er streitet Korruption an seiner Wache ab, bestätigt aber Ermittlungen gegen sich selbst und zwei weitere Beamte wegen einer Beschwerde Kumars beim Polizeichef des Bezirks.
Nun ist Kumar wieder in Patna, um bei der staatlichen Menschenrechtskommission von Bihar vorzusprechen. "Ich will, dass die Ehe für ungültig erklärt wird und die Leute, die das gemacht haben, bestraft werden", sagt er. Die Erfahrung habe ihm psychisch zugesetzt und er habe Angst, allein unterwegs zu sein. Von seinem Heiratswunsch habe ihn das Ganze aber nicht abgebracht. "Ich will eine natürliche, normale Ehe – von meiner Familie arrangiert."