"Für wen schlägt das Herz jetzt mehr?"
Ministerpräsident Kretschmann spricht in Kalifornien mit Jürgen Klinsmann über Heimat, Integration, Rechtspopulismus und Mesut Özil.
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Klinsmann ist einer der originellsten Gesprächspartner bei der Transatlantik-Reise des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann. Der zeitlos jugendlich wirkende Autor des WM-Sommermärchens 2006 kommt eigens nach San Francisco, um über Heimat und Integration zu diskutieren. Er enttäuscht die Zuhörer nicht: "Natürlich bin ich Schwabe durch und durch." Das verbindet ihn mit seinem Gesprächspartner.
Die Diskussion gleitet trotzdem nicht ins Beschauliche ab. Dafür sorgt unter anderem Moderator Hans Ulrich Gumbrecht. Der deutschstämmige Romanist der Universität Stanford hält den Heimatbegriff für ein Problem: Er sei nicht in andere Sprachen übersetzbar, weil sich darin eine spezifisch deutsche Verbindung des privaten Heims mit dem öffentlich-nationalen Bereich niederschlage. Die Wurzeln sieht Gumbrecht bei Martin Luther.
Als 1780 bis 1820 das historische Weltbild entstanden sei, habe der Begriff der Nation in Ländern wie Frankreich und England eine Projektion in die Zukunft erfahren: Die wachsenden Kolonialreiche beförderten die Idee von Organisationsformen, die potenziell die ganze Menschheit umfassen konnten. Da es Deutschland damals als Staat nicht gab, habe man sich dort auf Größenvorstellungen aus dem Mittelalter geworfen. "Das Deutsche war das Vergangene", sagt Gumbrecht. Der Heimatbegriff habe bis heute keine Öffnung auf die Zukunft. Er sei außerdem mit der Idee einer Leitkultur verbunden: Immer müsse es etwas Substanzielles geben, das die deutsche Kultur von anderen unterscheide. Der Begriff sei daher für die Integration ein Problem. Anders als in den USA: "Wenn man in den USA einen Job hat, ist man integriert."
Kretschmann fallen als Erstes die Heimattage des Landes ein, die in diesem Jahr in Waldkirch stattfinden. "Mit den alten Trachtengruppen, Bürgerwehren und dem ganzen Brauchtum." Bei Heimattagen gehe es aber auch um die Zukunft. "Zukunft braucht Herkunft", zitierte er den Philosophen Odo Marquard. Doch braucht sie das wirklich? Amerikaner zögen schneller um, bänden sich weniger an die Scholle und schauten viel stärker nach vorn, berichtet Klinsmann. Es sei schön, ab und zu daheim von alten Zeiten zu plaudern. "Aber das Leben selber ist ja jetzt und ist im Morgen. Und ich glaube, da gibt’s kaum schönere Flecken, an denen man leben kann, als Kalifornien, wo man ständig im Jetzt und im Tomorrow lebt. Es geht hier immer darum: Was können wir entwickeln, was gibt’s Neues?"
Von 2011 bis 2016 hat Klinsmann die Nationalmannschaft seiner neuen Heimat trainiert. Er hat die doppelte Staatsbürgerschaft und glaubt, dass es die Debatte um Mesut Özil dort auch gegeben hätte. Natürlich sei die ultimative Frage: "Für wen schlägt das Herz jetzt mehr?" Beim DFB habe es Fehler gegeben; letztlich müsse aber der Spieler entscheiden, wie er sich positioniere. "Ich integriere mich hier", macht Klinsmann klar. Dass Neubürger in den USA schwören müssen, notfalls gegen ihr Herkunftsland Krieg zu führen, erwähnt er nicht.
Die verkorkste WM 2018 habe Deutschland gerade noch gefehlt, seufzt wiederum Kretschmann. Der weltoffene Patriotismus des Sommermärchens 2006 sei einem ausgrenzenden Nationalismus gewichen. Der Ministerpräsident macht dafür Angst vor Kontrollverlust verantwortlich, ausgelöst durch die Finanz- und Flüchtlingskrisen. Obwohl es Baden-Württemberg so gut gehe wie nie, habe die AfD aus dem Stand 15 Prozent errungen. Zur Integration gebe es nun von rechts die massive Ansage, nur homogene Gesellschaften funktionierten und nicht plurale. Das sei ein Angriff auf die Errungenschaften des modernen Verfassungsstaats. "Das hätte ich mir mit meinen 70 Jahren nicht vorstellen können, dass wir in diese Situation noch mal kommen."
Gumbrecht hat die Staatsbürgerschaft vor 29 Jahren gewechselt; nun gratuliert er den baden-württembergischen Gästen zu ihrem präzise analysierenden Ministerpräsidenten: "Das würde unser Präsident auch am Sonntagmorgen nicht schaffen." Mit der Machtübernahme Donald Trumps habe sich auch in den USA die Stimmung verändert, pflichtet Klinsmann bei. Indes sei Trumps Wahl vor allem eine Wahl gegen Hillary Clinton gewesen.
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