Der Mutige, der Chinas Regierung in schlechtem Licht erscheinen ließ

Der Arzt Li Wenliang hat als Erster Alarm wegen des neuartigen Coronavirus geschlagen und wurde von den Behörden zum Schweigen gebracht / Jetzt ist er gestorben.  

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Der Arzt Li Wenliang ist gestorben.  | Foto: - (dpa)
Der Arzt Li Wenliang ist gestorben. Foto: - (dpa)
In der Nacht auf Freitag ist Li Wenliang im Zentralkrankenhaus Wuhan gestorben. Statistisch betrachtet ist der Augenarzt nur einer von bisher 638 bestätigten Virustoten. Für die chinesische Öffentlichkeit jedoch gilt der 33-Jährige nicht weniger als heldenhafter Märtyrer und Gesicht einer seit Wochen anhaltenden Gesundheitskrise. Sein tragisches Ende hat den Zorn der Bevölkerung gegen die rigide Zensur der Regierung angestachelt wie seit Jahren nicht mehr.

Ein Rückblick: Ende Dezember hatte Li in seiner Klinik ein scheinbar Sars-ähnliches Virus festgestellt, an dem sich auffällig viele Patienten angesteckt hatten. In einer Chatgruppe mit 150 Alumni seiner Medizinuniversität warnte er vor möglichen Gesundheitsrisiken. Nachdem jemand aus der Gruppe jedoch Screenshots der Chatnachrichten online weiterverbreitet hatte, beriefen die Behörden Li Wenliang noch in derselben Nacht ein – und drangen ihn zum Schweigegelübde. Mehr noch: Er musste ein Schuldeingeständnis unterschreiben, "die öffentliche Ordnung in ernster Weise bedroht" und "falsche Angaben" gemacht zu haben.

Mittlerweile gilt als gesichert: Hätten die Behörden Li Wenliangs alarmierende Botschaft ernst genommen, hätte das Virus womöglich in seinem Frühstadium eingedämmt werden können. Stattdessen verschwieg und verharmloste die Lokalregierung den neuartigen Lungenerreger über mehrere Wochen hinweg. "Wir wissen, dass sie lügen; sie wissen, dass wir wissen, dass sie lügen; und trotzdem lügen sie weiter", lautete ein populärer Post auf Weibo, dem chinesischen Twitter, nach Li Wenliangs Tod. Dort wurde die traurige Nachricht allein in der Todesnacht über eine Milliarde Mal angeschaut.

Ende Januar wurde der Augenarzt zur tragischen Heldenfigur. Er habe sich bei der Behandlung einer Patientin mit dem Coronavirus infiziert, schreibt Li auf seinem Wechat-Account. Das dazugehörige Selfie zeigt ihn in Quarantäne auf einer Intensivstation. Er sprach von Atemschwierigkeiten, künstlicher Luftzufuhr und Appetitlosigkeit. Besonders alarmierend: Mit 33 und ohne bekannte Vorerkrankungen zählt Li Wenliang zu jener Gruppe, von denen die Öffentlichkeit annahm, dass es von dem Virus nicht existenziell bedroht wird. In seinem letzten Interview sprach Li noch zuversichtlich über seine Pläne: "Nachdem ich mich auskuriert habe, möchte ich wieder an die medizinische Front. Die Epidemie breitet sich aus und ich möchte kein Fahnenflüchtiger sein."

Nach seinem Tod schrieben sich die chinesischen Internetnutzer unter dem Hashtag "Wir wollen Meinungsfreiheit" den Frust von der Seele, ehe ihre Nachrichten gelöscht wurden. Ein anderer Poster kommentierte: "Ich hoffe, dass wir eines Tages auf die Straße ziehen und Li Wenliangs Plakat vor uns tragen können." Auch dieser mutmaßliche Mobilisierungsversuch wurde gelöscht.

Außerordentlich war jedoch, dass selbst die Peking-treuen Staatsmedien sich offen für die Verdienste Li Wenliangs ausgesprochen haben und vereint in Trauer zeigten. Das Staatsfernsehen forderte etwa einen stärkeren Schutz für Whistleblower. Selbst die Zentralregierung in Peking sah sich zu einer Stellungnahme genötigt, die Probleme rund um Wi Lenliangs Tod "gründlich zu untersuchen". Doch letztlich ist der vermeintliche Willen zur Aufklärung eine Farce: Nur einen Tag vor Li Wenliangs Tod wurden fünf Krankenhausangestellte verhaftet, nur weil sie Videoaufnahmen über den Virusausbruch veröffentlicht hatten. Wenig später wurden alle Medienberichte darüber ebenfalls gelöscht. Bis heute veröffentlicht die Lokalregierung in Wuhan nicht, wie viele Krankenhausbeschäftigte sich mit dem Virus infiziert haben.

In den vergangenen Wochen kamen immer mehr Details über das fahrlässige Krisenmanagement der Lokalregierung von Wuhan ans Tageslicht. Erst nach einer Serie an Verschleierungsaktionen unterrichteten die Parteikader Mitte Januar die Öffentlichkeit von einem Coronavirus-Ausbruch. Wie sehr die Mediziner in Wuhan unter dem politischen Druck der Partei stehen, macht ein weiterer Skandal deutlich: Als in der zweiten Januarwoche in Wuhan die Sitzung zur Vorbereitung des nationalen Volkskongresses stattfand, gaben die Behörden im gleichen Zeitraum keine Neuerkrankung an. Eine Unmöglichkeit, wie chinesische Wissenschaftler später rekonstruierten: In der Frühphase des Virusausbruchs hätte sich die Anzahl der Infizierten laut ihrer Berechnung pro Woche verdoppelt.

Li, der als Student nach Wuhan kam, hinterlässt ein Kind und eine schwangere Frau. Unmittelbar nach seiner Diagnose zog er sich noch vor seiner Quarantäne in ein Hotelzimmer zurück, um seine Familie zu schützen. Dennoch hat Li Wenliang ungewollt auch seine Eltern mit dem potenziell tödlichen Virus angesteckt.
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