Heimkommen
Zukunft braucht die Tradition
Verlagsthema Bräuche stiften Sinn, Gemeinschaft sowie Zusammenhalt und sind in Südbaden stark verbreitet.
Mo, 23. Dez 2024, 9:51 Uhr
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Thema: Heimkommen
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Ein Leben ohne Überlieferungen, Bräuche, Sitten, Verhaltensnormen, Glaubenssätze und Handlungsmuster ist nahezu undenkbar. Es fängt schon beim Frühstück an: Da schneidet der traditionsbewusste Badener "zum z’Morge" sorgfältig dünne Scheiben vom Schwarzwälder Speck oder Schinken auf sein Brettle. Isst mittags meinetwegen Spätzle oder Sauerkraut und abends Bibbeleskäs mit Bratkartoffeln, die er "Brägel" nennt. Dazu ein Gläsle Moscht und ein Obstler oder Chriesiswasser. Alles Leckereien, die es seit Generationen gibt. "Omas Küche" ist ein vollmundiges Versprechen. Und am Sonntag kommt noch die Schwarzwälder Kirschtorte dazu, die längst ihren Weg auch auf die Kuchentische in aller Welt gefunden hat.
Allerdings ist der Ursprung der "traditionellen" Speisen nicht immer auszumachen. Schinken und Speck gab es immer schon dort, wo Schweine gehalten oder geschossen wurden und man Fleisch nur mit Salz und Rauch haltbar machen konnte. Die Erfindung der Spätzle aber reklamieren die Schwaben wohl zu Unrecht, denn alle Nudeln sind schon vor über 4000 Jahren in China gekocht, von Kaufleuten irgendwann nach Europa gebracht und dort verfeinert worden. Und die Schwarzwälder Kirschtorte stammt entweder aus Tübingen, Bad Godesberg oder Zug (Schweiz). Die Experten sind noch uneins. Unstrittig ist, dass die (inoffizielle) Weltmeisterschaft im Schwarzwälderkirschbacken in Todtnauberg stattfindet. Und im Mai 2024 hat die New York Times die Kalorienbombe zum beliebtesten Nachtisch auf dem Erdball ausgerufen.
"Es lebt der Mensch vom Essen nicht allein, er will auch gut gekleidet sein" – das wäre ein Plädoyer für schöne Kleider, Röcke, Hosen, Hüte und Schuhe zu feierlichen Anlässen. Festtagstrachten kennt man nicht nur in den Alpenländern. Dirndl und Lederhose haben allerdings in jüngster Zeit mitsamt "Oktoberfesten" auch Baden erobert. Die hiesigen traditionellen badischen Trachten werden nur noch selten von Brauchtumsvereinen zu deren Festen angezogen. Oder hängen im Museum. Die eine badische Tracht gibt es allerdings nicht, jede Region hat ihre Eigenheiten entwickelt, am besten erkennbar am Kopfschmuck. Die Markgräflerinnen zum Beispiel tragen zum Kostüm die "Hörnerkappe" und die Frauen in drei Dörfern im Kinzigtal – Gutach, Hornberg-Reichenbach und Kirnbach – den "Bollenhut". Diesen haben sich jedoch Freibeuter aller Art angeeignet, um ihn als "Marke" auf Schinkenpäckle, Schnapsflaschen oder Souvenirs zu kleben. Lästerer sprechen von einer "Bollenhutisierung". Die Kinzigtäler Frauen mit Bollenhut und Tracht wurden im 19. Jahrhundert vom geschäftstüchtigen, aus Sachsen stammenden Maler Wilhelm Hasemann (1850-1930) schön bunt gemalt und als Postkarten und Bilder reichweit verbreitet. Die Marketingidee gilt als "Erfindung des Schwarzwalds". Das Bürgertum war von Maler Hasemann und dem Bollenhutimage so begeistert, dass es die Bauern dazu drängte Trachtenvereine zu gründen, obwohl das Landvolk sich eigentlich lieber so "modern" wie die Stadtleute kleiden wollte. Das Bild wurde mit Filmen wie "Schwarzwälder Kirsch" (1958), "Schwarzwaldmädel" (1961) und der TV-Serie "Schwarzwaldklinik (1985) zum Klischee, das bis heute nachwirkt.
Traditionelle Kleidung in der sogenannten "fünften Jahreszeit" sieht man in der badisch-schwäbischen Fasnacht (Fastnacht, Fasnet, Fasent) in voller Pracht vor allem auf den Höhen und in den Tälern des Schwarzwalds. Seit 2014 ist die Schwäbisch-Alemannische Fasnacht Teil des immateriellen Kulturerbes der Unesco. "Sie ist unsere regionale Identität und ein unermessliches Kulturgut, das es zu bewahren gilt", betont Werner Mezger, emeritierter Professor und Volkskundler mit großer Reichweite über Presse, Bücher, Radio- und Fernsehsendungen. Mezger hat in langen Forschungsjahren herausgearbeitet, dass Fastnacht keine heidnische, sondern zutiefst christliche Tradition ist: Die Zeit vor dem Fasten eben.
Was in den unterschiedlichen Epochen jeweils mit Bräuchen geschah, steht auf einem anderen Blatt. So wie alle Bräuche konnte zum Beispiel die organisierte Fasnacht zu völkischem Unsinn missbraucht und zu unheimlicher Männerbündelei oder kommerziellem Halligalli verunstaltet werden. "Es wird immer problematisch, wenn die Würde von Menschen verletzt wird", konstatiert Werner Mezger.
Doch es gibt in und abseits der Fasnacht immer noch schöne und wiederkehrende Volksfeste, die mit Frohsinn zum gutem Lebensgefühl beitragen: Jahrmärkte, Herbst- und Frühjahrsmessen (Kirmes), Weihnachtsmärkte, Sommerfeste, Landesgartenschauen, Turnfeste. Kirchliche Feste wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten feiern auch Nicht-Christen. "Jährlich wiederkehrende Bräuche verleihen unserem Leben Rhythmik und Struktur" betont Mezger.
Darum sind sogar sehr spezielle Bräuche wie das österliche "Eierspringen" in Eichen (bei Schopfheim) oder das fasnächtliche "Schiibefür" (im Markgräflerland) nie ausgestorben, sondern wurden andernorts wiederbelebt. Andere Reanimationen zeigen kommerzielle Begleiterscheinungen: Über den jungen Brauch, am "Valentinstag" am 14. Februar, die Liebste zu beschenken, wird geunkt, dass Blumen- und Grußkartenhandel den Gedenktag des Heiligen Valentin gekapert haben. Und wenn auch die Süßwarenindustrie vielleicht nicht direkt hinter dem Halloween-Spektakel vor "Allerheiligen" am 31 Oktober steht, profitiert sie bei "Süßes oder Saures" doch mehr als die Zahngesundheit. Ein besinnlicher Martinsumzug am 11. November ist auf jeden Fall die gesündere Alternative.
"Der Mensch ist ein Gewohnheitstier" erklärt Werner Mezger. "Bräuche sind immer eine kollektive Angelegenheit. Sie beheimaten uns, schaffen Vertrauen. Und sind deshalb für den Zusammenhalt der Gesellschaft äußerst wichtig." Das Verhältnis von Tradition und Fortschritt wird immer wieder neu interpretiert. Leider kommen dabei auch viele Traditionen zu Unrecht unter die Räder. Vor allem solche, die mit "Selbermachen" verbunden sind: Tanzen, Singen, Musizieren etwa. Und auch die Mundart der Region: Die Muettersprochgsellschaft apelliert darum: "Trau di halt – schwätz alemannisch".
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