Flüchtlingskrise
Wenn 30 Sekunden über das Schicksal einer Familie entscheiden
Um der Flüchtlinge Herr zu werden, haben sich die Länder an der Balkanroute zusammengetan – und lassen kaum noch jemanden durch .
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Die 30 Sekunden an dem improvisierten Übergang sind für das weitere Schicksal der Familie Hamadi entscheidend. Heute ist es warm, die Sonne scheint. Kein Wort sagt der Grenzer, nur unmerklich dreht er das Kinn ein wenig nach links. Ihr dürft durch, heißt das. Wer 1500 Kilometer mit einem Bruder im Rollstuhl durch den Nahen Osten gezogen ist, lässt sich kein Muskelzucken entgehen. Glück gehabt.
Die "kakanische Allianz" heißt im Wiener Jargon neuerdings das Bündnis der Balkanroutenstaaten von Österreich bis hier hinunter nach Mazedonien – nach einem Wortspiel aus der Zeit k.u.k. Monarchie, als Wien auch noch ganz offiziell die Hauptstadt des Balkan war. Ausgangs- und Endpunkt der Route, Deutschland und Griechenland, blieben bei der Allianz allerdings außen vor, als Mitte Januar Österreichs junger Außenminister Sebastian Kurz und seine strenge Innenministerin Johanna Mikl-Leitner das Heft des Handelns in die Hand nahmen. Und Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann, selbst vom rechten Flügel seiner Partei in die Allianz mit dem machtbewussten Ungarn Viktor Orbán gedrückt, traute sich zu sagen, dass "wir Schritte gesetzt haben, die Deutschland auch noch setzen wird".
Für die Hamadi-Brüder und andere bedeutet das: Vom 1. März an, übernächste Woche Dienstag also, soll der meterbreite Durchlass auf dem Feld von Idomeni für immer mehr Menschen und schließlich für alle geschlossen bleiben. Seit Mitte November schon werden hier noch Flüchtlinge aus den Bürgerkriegsstaaten Syrien, Irak und Afghanistan durchgelassen. Nach dem Stichtag sollen nach einander erst Afghanen, dann Iraker und schließlich auch Syrer ausgesperrt bleiben. Offiziell bestätigt wurde der Termin noch nicht, aber nach ihrem Treffen mit Ratspräsident Donald Tusk und Kommissionschef Jean-Claude Juncker ließen die Staatschef Mazedoniens und Serbiens, beides keine EU-Länder, an dem Plan keinen Zweifel mehr.
Wenn die Sonne scheint, funkeln die scharfen Spitzen des Nato-Drahts im weiten Vardar-Tal bis zum Horizont. Zwei Reihen dichter Maschendraht, dazwischen die Stacheldrahtrollen – auf den ersten Blick scheint der neue Schutzwall unüberwindlich. Gerade hämmern Arbeiter noch ein neues Stück Zaun am Bahngleis zusammen: Keiner, der hier zurücktransportiert wird, soll im letzten Moment noch abspringen können.
Auch auf den zweiten Blick hält der Wall. Probeschließungen in den vergangenen Wochen, als die mazedonischen Grenzer immer wieder für Stunden oder gar Tage mit fadenscheinigen Begründungen das Törchen schlossen, verliefen erfolgreich: Niemand fand einen Umweg, Tausende kampierten zeitweise zwanzig Kilometer landeinwärts an einer Autobahn-Tankstelle. Flüchtlingshelfer haben auch dort große Zelte aufgebaut; jetzt ist alles leer. In der vergangenen Woche kamen jeden Tag nicht einmal 200 Menschen, so wenige wie seit dem vergangenen Sommer nicht.
Gleichzeitig machen sich auch weiterhin Tausende auf den Weg: Erst am Dienstag setzten wieder 1800 Menschen mit Booten über die Ägäis auf eine der vier großen griechischen Inseln über. Die meisten hängen noch irgendwo in Griechenland fest. Nach monatelangem Zögern haben die Griechen ihre Registrierungsstellen auf Lesbos, Samos, Chios und Kos zu Hotspots erklärt – was erst mal nur bedeutet, dass alles länger dauert. Immer wieder blockieren Bauern mit ihren riesigen Traktoren die Europastraße von Athen herauf nach Saloniki – und die Busse müssen große Umwege in Kauf nehmen. Im Dezember nahm die Reise über die Balkanroute von Griechenland nach Deutschland manchmal nur drei Tage in Anspruch. Heute sind es mindestens fünf. Aber weder die Balkanstaaten haben das Zauberwort, noch hat es Griechenland. Es ist die Türkei, aus der gerade kaum mehr jemand kommt.
Der dritte Blick gilt dann der Landkarte: Griechenland hat nicht nur eine Grenze mit Mazedonien, sondern auch eine doppelt so lange, ungesicherte zum EU-Land Bulgarien. Die griechisch-albanische Grenze schließlich ist seit vielen Jahren der Alptraum aller Behörden. Bis zum Beginn der Flüchtlingskrise fand hier jährlich etwa die Hälfte aller illegalen Grenzübertritte in ganz Europa statt. Staatliche Strukturen gibt es hier wenig, dafür umso mehr private. Gut organisierte Schmugglerringe finden in Albanien, aber auch in Montenegro und in Bosnien ein ideales Betätigungsfeld. Von dort sind es noch gut 200 Kilometer bis nach Österreich.
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