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Woche der seelischen Gesundheit

Vom Leben erschöpft: Diese Angebote gibt es für Menschen mit psychischer Beeinträchtigung im Kreis Emmendingen

Ulrike Sträter
  • Mi, 09. Oktober 2024, 13:15 Uhr
    Emmendingen

     

Rund um den Welttag der seelischen Gesundheit am 10. Oktober gibt es im Landkreis Veranstaltungen, die auf unterschiedliche Weise auf psychische Erkrankungen aufmerksam machen wollen. Die Hilfeanbieter:

Ilias Kalpakidis (links) und Johannes ...d ein Dutzend Werkstätten der Caritas.  | Foto: Ulrike Sträter
Ilias Kalpakidis (links) und Johannes Handwerker im Popup-Store Emmendingen; hier gibt es Upcycling-Produkte aus rund ein Dutzend Werkstätten der Caritas. Foto: Ulrike Sträter

Vor 30 Jahren wurde der Welttag der seelischen Gesundheit in Deutschland mit dem Ziel ins Leben gerufen, mehr Offenheit in der Gesellschaft für Menschen mit psychischen Erkrankungen sowie deren Entstigmatisierung zu erreichen. Auch der Kooperationskreis der sozialpsychiatrischen Hilfen im Landkreis Emmendingen hat sich dies zum Ziel gesetzt. In diesem Jahr finden die öffentlichen Veranstaltungen und Aktionen unter dem Titel "Hand in Hand für seelische Gesundheit am Arbeitsplatz" statt.

Werkgemeinschaft der Caritas

Für Magnus Bodemer vom Sozialdienst der Freiburger Werkgemeinschaft ist Arbeit das Kernthema. Neben Merzhausen und Titisee-Neustadt ist eine weitere Werkstatt in Emmendingen und ermöglicht dort etwa 50 Menschen mit psychischer Beeinträchtigung, am Berufsleben teilzuhaben und sich weiterzubilden. "Wenn die Leistungsfähigkeit nicht mehr gegeben ist, wird eine persönliche Betreuung umso wichtiger für eine mögliche berufliche Wiedereingliederung", Bodemer spricht von Tagesstruktur, wie wichtig sie sei und welche begleitenden Angebote helfen könnten. "Wir müssen neue Wege finden, diesen Menschen Halt zu geben, damit sie durch ihren Arbeitstag kommen", sagt Bodemer und nennt als Beispiele Yoga oder Kreativangebote wie Malen, durch die man "sein Frei-Sein im Tun erleben könne". Auffällig sei, so Bodemer weiter, dass vermehrt jüngere Menschen in den Zwanzigern in die Werkstätten vermittelt würden, insgesamt reiche die Altersspanne bis zum Rentenalter.

Verse

Tagesstruktur ist auch für Moritz Holtkamp eine Kernaufgabe. Der Sozialarbeiter vom Verein zur Förderung seelisch Behinderter und Kranker in Emmendingen (Verse) sucht Familien, die eben diese Menschen bei sich aufnehmen und durch den Alltag begleiten. "Dabei ist neben der Struktur, die Gastfamilien bieten, eine sinnstiftende Arbeit mindestens genauso wichtig. Sonst wird auch das Familienleben schwierig, weil dann allen die Decke auf den Kopf fällt", sagt Holtkamp, und weiter: "Damit es bei der Arbeit klappt, sind Pausen wichtig. Oft haben diese Menschen kürzere Aufmerksamkeitsspannen und besondere Bedürfnisse. Wird darauf eingegangen, stabilisieren sie sich und machen ihre Arbeit, bestenfalls mit Freude."

Selbsthilfe mit Köpfchen

Das weiß auch Rainer Höflacher. Der 63-Jährige erkrankte mit 19 Jahren und arbeitet heute als Psychiatrie-Erfahrener im Verein Selbsthilfe mit Köpfchen, der seit 2002 besteht. Seine Gruppe trifft sich jeden zweiten und vierten Freitag im Monat im Emmendinger Markt 15. Von 17 bis 18.30 Uhr tauschen sich dort laut Homepage Betroffene ohne professionelle Leitung aus. "Der Arbeitsmarkt sollte auch Menschen mit psychischer Beeinträchtigung einen Platz einräumen. Es ist ja nicht so, dass sie gar nicht arbeiten können." Ihm selbst wurde aufgrund seiner Krankheit damals gekündigt – und er wurde wieder eingestellt. "Die Firma hat den Arbeitsplatz an meine Bedürfnisse angepasst. Da hatten beide Seiten etwas davon", sagt Höflacher. Moritz Holtkamp von Verse ergänzt, dass dadurch der Mensch in seiner Gesamtheit wahrgenommen wird, ein wichtiger Schritt in Richtung Entstigmatisierung: "Das Umfeld von Menschen mit psychischer Beeinträchtigung ist oftmals beschränkt auf die Bereiche, in denen es in der Hauptsache um ihre Krankheit geht, Ärzte oder Angebote von Selbsthilfegruppen etwa. Auf dem Arbeitsmarkt aber besteht die Möglichkeit, dass sie wieder Teil der gesamten Gesellschaft werden und zwar im positiven Sinn." Höflacher, der als Programmierer arbeitete, ergänzt: "Auf dem ersten Arbeitsmarkt ist durchaus Luft nach oben. Erleichtert man Menschen mit psychischer Beeinträchtigung den Einstieg, wäre beiden Seiten geholfen." Höflacher denkt dabei an Berufsbegleiter, vergleichbar mit den Genesungsbegleitern, von denen vier beim Zentrum für Psychiatrie (ZfP) arbeiten. Das sind Menschen, die persönliche Erfahrungen in der Psychiatrie gemacht haben und nun Erkrankte darin unterstützen, wieder ihren Platz in der Gesellschaft zu finden.

Zentrum für Psychiatrie

Stephan Schieting, medizinischer Direktor des ZfP-Krankenhauses, weiß um die wertvolle Arbeit dieser Genesungsbegleiter. Als Mediziner schätzt er das breitgefächerte Angebot, das über die Jahre für Menschen mit psychischer Erkrankung in der Gesellschaft geschaffen wurde: "Es gibt sehr viel mehr ambulante Angebote als noch vor 20 Jahren. Struktur aufbauen, Schutz im Bereich Wohnen und Arbeit bieten. Ich bin dankbar für alles, was da geleistet wird. Denn Arbeit kann krank machen. Aber wenn sie fehlt, kann sie das eben auch." Sorge machen ihm die Menschen, die durch das Netz all dieser Angebote gefallen sind und bei ihm in der Akutklinik stranden: "Da braucht es große Anstrengungen vom Landkreis, sie dort wieder rauszubekommen. Ein zu langer Aufenthalt wäre gerade für diese Menschen toxisch. Für sie einen besseren Platz zu finden, bindet aber auch viele Ressourcen." Die Lage werde nicht einfacher. Der Boomer-Jahrgang gehe in den verdienten Ruhestand und der Jahrgang 2000, der auf den Arbeitsmarkt komme, sei nur halb so groß. Ein Mangel an Pflegekräften, Ärzten, an allem sei schon jetzt zu spüren.

Sozialpsychiatrischer Dienst

Andrea Seguin vom sozialpsychiatrischen Dienst des Landkreises (SPDI) beobachtet auch bei sich selbst, wie kräftezehrend die Arbeit geworden sei, dass sie mehr werde und sich auf immer weniger Schultern verteile: "Die Zahl der Klienten steigt. Wie wir das mit weniger Personal leisten, ist eine Herausforderung. So geht es ja in vielen Bereichen. Umso wichtiger ist die Prävention, um frühzeitig die Reißleine zu ziehen. Arbeit zieht vielen Menschen den Stecker, die Jüngeren kommen nicht in den Tritt. Da ist die Gesellschaft gefragt." Auch Schieting beobachtet, dass zunehmend Menschen ins Straucheln geraten, die eigentlich mitten im Leben stehen: "Sie leben in einer Beziehung, haben Familie, Arbeit, Eigenheim und trotzdem quält sie etwas. Wenn da eine dieser Säulen eine andere ansägt, wird es schwierig. In den 1990er-Jahren, als wir anfingen, hatten wir 90 Betten im Bereich Depression. Heute brauchen wir 180. Das ist ein gesellschaftliches Thema. Modern Life bekommt nicht jedem. Es erschöpft, woran auch immer es liegen mag."

Haus Eliah

Jo-Ann Gebhard, Leiterin des Hauses Eliah in Emmendingen, einer Einrichtung für wohnungslose Menschen, wünscht sich auch neue Herangehensweisen: "Menschen, denen es psychisch schlecht geht, entgleitet ihr Alltag. Da fallen Dinge hinten runter. Ich sehe da Prävention als ein Muss, weil es zielführender ist. In Lörrach läuft beispielsweise ein gutes Programm mit der Fachstelle Wohnungssicherung. In Kooperation mit dem Amtsgericht geht man da auf Menschen zu, die Gefahr laufen, ihre Wohnung zu verlieren. Mit ihnen wird nach Lösungen gesucht, dass sie erst gar nicht obdachlos werden." Im Haus Eliah stehen acht Plätze im Aufnahmehaus, acht weitere in der Hochburger Straße zur Verfügung. "Tendenziell sind wir immer voll, auch wenn es Zeiten gibt, wo es schwankt", beschreibt Gebhard die angespannte Situation.

Reha-Verein

David Götz, Heilpädagoge im Fachbereich Beschäftigung im Freiburger Reha-Verein, sieht auch die Dringlichkeit: "Statistisch gesehen erkranken rund 30 Prozent der Deutschen, einmal im Jahr psychisch, in einer behandlungswürdigen Weise. Von ihnen nimmt aber nur jeder Vierte Hilfe in Anspruch. Das zeigt auch, wie drängend das Problem ist." Nicht zuletzt auch, weil aus den nichtbehandelten Fällen chronische Erkrankungen hervorgehen könnten. Je früher auf die Krankheit eingegangen wird, desto besser. "Auch sie hatten mal eine Frühphase in ihrer Jugend oder im Erwachsenwerden, wo man leichter hätte eingreifen und helfen können", sagt Götz.

Betreutes Wohnen

Timo Söllner vom ambulant betreuten Wohnen der Caritas in Freiburg versucht genau da anzusetzen, Ausdrucksformen zu finden, eine neue Sichtweise auf die Krankheit zu finden – für den Betroffenen selbst, aber auch für die Gesellschaft. Zur Weltwoche der seelischen Gesundheit hat er zusammen mit der Volkshochschule eine Schreibwerkstatt angeboten: "Für Erkrankte und Gesunde gleichermaßen, die sich von der Seele schreiben, was sie gerade bewegt, ganz individuell als Gedicht oder Text. Die Texte werden in einer Lesung vorgestellt und noch ist nicht sicher, ob es die Verfasser selbst machen oder ihre Texte von jemanden vorlesen lassen. Musikalisch wird das mit Beiträgen aus der Musiktherapie des ZfP untermalt. Eine Idee, um sich einfach auch mal auf anderer Ebene begegnen zu können."

IBB

Werner Tegeler war bis zu seiner Pensionierung leitender Mitarbeiter des ZfP-Pflegedienstes und ist nun bei der IBB, der Informations-, Beratungs- und Beschwerdestelle des Landkreises, tätig. Die IBB begleitet, berät und unterstützt Menschen, die mit dem psychiatrischen Hilfesystem Probleme haben, sich nicht gesehen oder ausreichend versorgt fühlen und Unterstützung brauchen. Ein weites Feld; und auch da fehlen die Mittel. "Bei uns laufen die Anfragen ein, aber einen Termin bei einem Psychologen zu finden, wird schon zur Herausforderung", sagt Tegeler, der die Gespräche am Infostand zum Tag der seelischen Gesundheit kennt, weil sie sich wiederholen: "Zu viel Bürokratie, zu wenig Geld. Gegen zu hohe Erwartungen rate ich jedem, sich mit seinen Mitteln einzubringen – und wenn es das Kreuz auf dem Stimmzettel in der Wahlkabine ist."

Veranstaltungen im Kreis Emmendingen

Freitag, 11. Oktober, und Dienstag, 15. Oktober, jeweils 9 Uhr: Informationsstand des Kooperationskreises der sozialpsychiatrischen Hilfen im Landkreis Emmendingen mit Crêpestand vom ZfP Emmendingen auf dem Markt in Denzlingen (11. Oktober) sowie dem Marktplatz Emmendingen (15. Oktober). An der Informationsveranstaltung beteiligen sich auch die Caritas, Reha-Verein, Diakonie, Verse, SPDI und IBB.

Mittwoch, 16. Oktober, 18 Uhr: Schreibkunst und Rock, Lesung und Vorstellung der Texte aus der Schreibwerkstatt, zu der der Kooperationskreis mit der VHS Emmendingen Anfang Oktober eingeladen hatte. Thema hier: kreatives Schreiben als Ressource. Veranstaltungsort ist der Schlosskeller Emmendingen.

Donnerstag, 17. Oktober, 19 Uhr: In der Festhalle des ZfP in Emmendingen (Eintritt fünf Euro, nur Abendkasse) wird das Theaterstück "Die unsichtbare Freundin" von Claire Dowie aufgeführt. Aus dem seelisch bedrohlichen Zustand, begründet im Mangel an Liebe, befreit sich ein Kind, in dem es eine Freundin erfindet. Ist diese zunächst eine große Hilfe, entwickelt sich die phantasierte Freundin später zu einer Gefahr.

Freitag, 18. Oktober, 10 bis 15 Uhr: Bis zum 30. Oktober werden Upcycling-Produkte, hergestellt von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen, im Pop-up-Store in der Markgrafenstraße 5 in Emmendingen angeboten. Aus Veranstaltungsbannern entstehen in den Caritas-Werkstätten Unikate wie Taschen, Mäppchen oder Abfallsäcke. Am 18. Oktober findet hier eine Vernissage statt, bei der kreative Produkte aus dem Projekt "Frei sein im Ton" gezeigt werden.


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Ressort: Emmendingen

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