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Riccardo und seine Brüder

Ein Jugendrichter in Kalabrien holt die Kinder der ’Ndrangheta aus ihren Familien, um sie so vor einer kriminellen Laufbahn zu schützen.  

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Die tödlichen Spuren der ’Ndrangheta reichen bis Duisburg   | Foto: dpa
Die tödlichen Spuren der ’Ndrangheta reichen bis Duisburg Foto: dpa
Es war im März 2011, als die Carabinieri den 16-jährigen Riccardo Cordì ins Jugendgericht von Reggio Calabria führten. Cordì hatte ein Polizeiauto gestohlen und beschädigt. Jugendrichter Roberto Di Bella stutzte, als er den Nachnamen des Jungen las. Er hatte bereits andere jugendliche Täter aus der Familie wegen Mafiaverbrechen verurteilt.

Auch Mitglieder der Familien Piromalli, Pesce, Alvaro, Pelle, Nirta oder Strangio. Auch Cordì ist der Name einer bekannten ’Ndrangheta-Familie aus Kalabrien, der Region an der Spitze des italienischen Stiefels.

Die ’Ndrangheta ist eine der mächtigsten Mafiaorganisationen weltweit mit einem geschätzten Umsatz von 50 Milliarden Euro jährlich, vor allem mit Drogenhandel. Riccardos Vater, ein Mafiaboss, war 1997 während eines Kriegs verfeindeter Clans in der Stadt Locri mit mehr als einem Dutzend Schüssen in den Kopf ermordet worden. Auch Riccardos Brüder sind der Justiz bekannt. Salvatore wurde wegen Mordes zu 30 Jahren Haft verurteilt. Domenico sitzt wegen Mafiaverbrechen, Antonio ist in einer Gefängnispsychiatrie inhaftiert. Der Jugendrichter fragte sich: Ist es noch zu verhindern, dass der 16-jährige Riccardo dieselbe kriminelle Laufbahn einschlägt wie seine Brüder?

Roberto Di Bella ist seit 20 Jahren am Jugendgericht von Reggio Calabria tätig, inzwischen als Vorsitzender. In dieser Zeit verhandelten er und seine drei Kollegen mehr als 100 Strafverfahren wegen Mafia-Verbrechen, in mehr als 50 Fällen ging es dabei um Mord. "Wir gelangten zu der Überzeugung, dass eine Erziehung zum Mafioso genauso unterbunden werden muss, wie das Aufwachsen mit gewalttätigen, alkohol- oder drogensüchtigen Eltern", sagt Di Bella. Mafioso zu werden, sei meist keine Entscheidung. "Es ist eine Frage des Erbes", sagt der Richter.

Die ’Ndrangheta-Sprösslinge werden nicht zur Selbstständigkeit erzogen, sie lernen von klein auf die Gesetze der Clans, den Gebrauch von Waffen oder das Strecken von Kokain. "Die potenziellen Kriminellen aus diesem gefährlichen Umfeld herauszulösen, ist beinahe revolutionär", sagt der Antimafia-Staatsanwalt Nicola Gratteri.

Riccardo Cordì war der erste ’Ndrangheta-Sohn, dessen Familie per Gerichtsbeschluss das Sorgerecht entzogen wurde. Seine Sozialprognose ließ erwarten, dass auch er früher oder später wegen schwerer Straftaten im Gefängnis landen würde. Di Bella verfügte, dass der 16-Jährige außerhalb Kalabriens in einer sozialpädagogischen Einrichtung betreut wurde. Für den Richter war es entscheidend, den Jungen von seinem bisherigen Umfeld zu lösen.

Etwa 50 Minderjährige, die meisten von ihnen Jungs, hat das Jugendgericht von Reggio Calabria seit 2012 aus ihren Familien entfernt und lässt sie betreuen. Zwölf Jugendliche haben das bis zur Volljährigkeit dauernde Programm bereits abgeschlossen. "Bis heute ist keiner von ihnen wieder straffällig geworden", sagt Enrico Interdonato, ein Psychologe der Antimafia-Organisation Addiopizzo in Messina auf Sizilien. Der heute 32-Jährige kümmerte sich zwei Jahre lang als Tutor um Riccardo Cordì. "Ich habe versucht, an seine wahre Identität heranzukommen", sagt Interdonato, der weiterhin mit gefährdeten Jugendlichen arbeitet. Er nahm Cordì zu Treffen mit anderen Antimafia-Aktivisten mit, begleitete ihn zur Schule, vermittelte ihm ein Praktikum und zeigte ihm ein Leben ohne die ’Ndrangheta.

Irgendwann durfte Cordì an jedem zweiten Wochenende seine Mutter in Locri besuchen. Nach seinem 18. Geburtstag kehrte er nach Hause zurück. Cordì ist heute 20 Jahre alt und hat einen Job. Auch seine Mutter ging bei den Antimafia-Aktivisten in Beratung. Es sind die Mütter aus ’Ndrangheta-Familien, die aus Sorge um ihre Kinder in einigen Fällen freiwillig den Kontakt zum Jugendgericht von Reggio Calabria suchen. "Das ist vielleicht unser größter Erfolg", sagt Jugendrichter Di Bella. Schon etwa ein Dutzend Frauen hätten sich mit der Bitte gemeldet, ihre Söhne aus den Familien zu entfernen. Einige hätten offen ihre Zusammenarbeit mit der Justiz angeboten, andere haben sich heimlich an das Gericht gewendet.

Die Methode scheint zu funktionieren, andere Jugendrichter ahmen es nach. Und doch gibt es noch keine Gewissheit darüber, wie effektiv der Sorgerechtsentzug in Mafiafamilien sein kann. Riccardo Cordì zum Beispiel ist zwar nicht wieder straffällig geworden. Während eines Fußballspiels in Locri warf er Feuerwerkskörper auf das Spielfeld und beleidigte Polizisten. Die Folge ist ein zweijähriges Stadionverbot. Er muss sich regelmäßig bei der Polizei melden. Dass er den Absprung definitiv geschafft hat, kann heute niemand mit Gewissheit sagen.

Ressort: Ausland

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