Russland
Nomaden-Kinder: Zurück in die Tundra
Es gibt sie noch in der russischen Arktis: Nomadenvölker mit einer jahrtausendealten Kultur. In einem Pilotprojekt soll deren Kinder wieder die eigene Sprache und Kultur vermittelt werden. Die Zeit drängt.
Do, 5. Jan 2012, 0:01 Uhr
Panorama
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Sie sitzen rund um das eiserne Öfchen auf Rentierfellen, mehrere Lagen davon sind auch an den Tragstangen des Tschums – dem Wohnzelt der Nomaden der russischen Arktis – befestigt. Vor ihnen liegen Fibeln in Ewenkisch, ihrer Muttersprache. Mit Gedichten und Märchen. Statt in einem Ranzen verstauen sie ihre Schulsachen in Körbchen aus geflochtener Birkenrinde – ein extrem leichtes Material und daher wie geschaffen für das Pendeln zwischen den Weideplätzen in der Tundra.
Richtung und Zeit der Wanderung geben die nur oberflächlich domestizierten Rentiere vor. Die Menschen können ihnen nur folgen und darauf achten, dass die meist mehrere tausend Tiere zählenden Herden nicht allzu weit auseinanderlaufen. Auch der Umgang mit den Rentieren – sie liefern den Bewohnern der Arktis nahezu alles, was für das Leben unter extremen klimatischen Bedingungen gebraucht wird – steht im Schul-Tschum auf dem Lehrplan. Ebenso Fischfang und Pelztierjagd, von denen die Ewenken und die anderen Völker des hohen Nordens traditionell leben. Während Berufspädagogen den Unterricht in Schreiben, Lesen und Rechnen übernehmen und jede Wanderung zur neuen Weide mitmachen, bringen Eltern und andere Verwandte den Nomadenkindern Melken, Fallenstellen und andere praktische Fertigkeiten für das Überleben in der Tundra bei. Es ist vorerst nur ein Pilotprojekt, das im September in der mittelsibirischen Region Krasnojarsk in der Grundschulstufe startete. Bewährt es sich, soll es bei allen Wandervölkern, die in der Ödnis zwischen Eismeer und am Nordrand der Taiga leben, eingeführt werden.
Nur ein Mix von modernen Bildungsinhalten und Rückbesinnung auf eigene Kultur und Sprache würde verhindern, dass die kleinen Völker des hohen Nordens, die oft nur noch wenige hundert Seelen zählen, im 21. Jahrhundert von der ethnografischen Weltkarte verschwinden, glaubt Projektleiterin Sinaida Pikunowa. Ängste, die durchaus berechtigt sind.
Zwar gehören die Ewenken, die es allein in Sibirien auf rund 35 000 Seelen bringen – fast noch mal so viel leben in der Mongolei und in Nordchina – zu den Größten der Kleinen. Doch die Unesco setzte Ewenkisch und andere Idiome der Völker des hohen Nordens bereits auf die rote Liste der vom Aussterben bedrohten Sprachen. "Wenn die Sprache stirbt" , sagt Projektleiterin Pikunowa, die selbst Ewenkin ist, "stirbt auch unsere einmalige Kultur. Es ist fünf vor zwölf".
In der Tat: Derzeit lernen die Kinder in der russischen Arktis in den zu Sowjetzeiten eingeführten Internatsschulen. Ihre Eltern sehen sie nur in den Sommerferien. Die engen Familienbande – Grundlage für das kollektive Wirtschaften der Tundra-Nomaden – werden früh zerstört. Später bleiben die meisten von ihnen in den festen Siedlungen der Russen, wo sie sich mit gering bezahlten Jobs durchschlagen oder von Sozialhilfe leben, weil sie gar nicht erst Arbeit finden. Viele werden depressiv und ertränken, vor allem während der bis zu vier Monaten langen Polarnacht, ihren Kummer in Alkohol.
Projektleiterin Pikunowa erklärt das Elend der Nomaden auch durch den Verlust der eigenen Identität als Volk. Zwar würde den Nomadenkindern dies ab der fünften Klasse auch künftig nicht erspart bleiben. Doch in den ersten vier Schuljahren im Schulzelt würde ihnen die Liebe zu ihrer Muttersprache und ihrer Stammeskultur vermittelt. Die meisten Kinder aus den Tschum-Schulen, glaubt sie, würden daher auch später als Rentierzüchter, Fischer oder Jäger in die Tundra zurückkehren.
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