Lulas Rückkehr
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Lula möchte in einer zweiten Amtszeit ein neues Brasilien aufbauen
Rechter Bolsonarismus gegen linken Lulismus – es wird eine Richtungswahl für Lateinamerika, dessen wirtschaftlich stärkste Nation Brasilien ist. Für Lula könnte es die Rückkehr in sein altes Amt werden.
Lange bevor der Star des Abends eintrifft, hallt ein Chor durch die Halle in São Paulo: "Olé, Olé, Olé, Olá – Lula, Lula!" Die Vertreter von rund 30 sozialen Bewegungen sind zusammengekommen, darunter Gewerkschaften, die Landlosen- und die Schwarzen-Bewegung sowie Vertreter sexueller Minderheiten. Es sind viele junge Menschen da, das Publikum ist bunt, trägt Aufkleber mit Forderungen wie: "Gegen die Polizeigewalt in den Favelas!"Sie sind hier, um ihren Hoffnungsträger zu feiern: Luiz Inácio da Silva, genannt Lula. Von 2003 bis 2011 war er Brasiliens Präsident. Als er aus dem Amt schied, weil die Verfassung keine dritte Amtszeit zulässt, hatte er eine Zustimmungsrate von 83 Prozent. Barack Obama sagte: "I love this guy." Nun will Lula erneut in den Präsidentenpalast in Brasília einziehen. Bei der Wahl im Oktober tritt er gegen den ultra-rechten Amtsinhaber Jair Bolsonaro an. Alle Umfragen deuten darauf hin, dass Lula gewinnt. Im ersten Wahlgang werden ihm 45 Prozent der Stimmen prognostiziert, Bolsonaro 34 Prozent.
Lula gegen Bolsonaro: Es ist das Duell zweier Männer, die beide die Massen mobilisieren. Von ihren Anhängern werden sie fast religiös verehrt, von ihren Gegnern gehasst. Sie stehen für zwei Visionen von Brasilien, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Hier das Gesellschaftsmodell Bolsonaros, in dem heterosexuelle Männer, die Sicherheitskräfte, Großgrundbesitzer, wohlhabende Weiße und konservative Christen den Ton angeben. Dort Lulas Modell, in dem Arbeiter, Arme, sexuelle Minderheiten, Frauen, Schwarze und Indigene mehr Gehör finden. Es wird eine Richtungswahl für ganz Lateinamerika, dessen größte, bevölkerungsreichste und wirtschaftlich stärkste Nation Brasilien ist. Beide Männer sind so prägend, dass zwei Ideologien nach ihnen benannt sind: extrem rechter Bolsonarismus gegen linken Lulismus.
In Sneakern, Jeans und T-Shirt kommt Lula auf die Bühne, an der Hand seine neue, rund 20 Jahre jüngere Frau, Rosângela Silva, eine Soziologin. Die Hochzeit liegt wenige Wochen zurück. Lula ist 76, sein Haar schütter, sein Vollbart grau. Die jungen Leute drängen zu ihm hin, er verteilt Küsschen, ergreift Hände, schreibt Autogramme, hebt Kinder zu sich auf die Bühne. Er ist im Wahlkampf und es scheint, als ob er größten Spaß daran hätte. Mit sägender Stimme ruft er ins Mikro: "Die Liebe wird den Hass Bolsonaros besiegen." Bei vielen Politikern würde so ein Satz kitschig klingen, aber als Lula ihn sagt, stehen manchem in der Halle Tränen in den Augen.
Diese Haltung stecke auch hinter der Aussage Lulas zum Ukraine-Krieg im Time-Magazin, die international für Kritik sorgte. Lula hatte dem Westen vorgeworfen, nicht genug mit Wladimir Putin verhandelt zu haben, und sagte, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sei mitschuldig am Krieg, den er für eine persönliche Show nutze. Man fragte sich, ob Lula, der Brasilien einst als internationalen Vermittler und als Führungsnation des globalen Südens etabliert hatte, seinen außenpolitischen Kompass verloren hat. Amorim wiegelt ab. Lula sei der Überzeugung, dass sich jeder Konflikt über einen ehrlichen Dialog lösen lasse. Er sei Optimist geblieben – selbst, als er monatelang in einer Gefängniszelle saß.
Tatsächlich ist das Bemerkenswerteste am Comeback Lulas, dass er überhaupt wieder da ist. Denn die Dekade nach seinem Ausscheiden als Präsident 2011 war von persönlichen und politischen Katastrophen geprägt. Sie ist eng mit dem Namen Sérgio Moro verbunden. Der junge ehrgeizige Untersuchungsrichter hatte 2014 Korruptionsermittlungen rund um den staatlichen Erdölkonzern Petrobras aufgenommen, Brasiliens wichtigstes Unternehmen.
Mit der Zeit legten Moro und sein Team ein weitverzweigtes Korruptionsnetzwerk offen, in das Hunderte Politiker, Funktionäre und Unternehmer verwickelt waren. Obwohl Politiker zahlreicher Parteien involviert waren, wurden besonders Lula und seine Arbeiterpartei PT für das System verantwortlich gemacht, weil es unter der PT entstanden war.
Parallel rutschte Brasilien nach dem Wirtschaftsboom der Nullerjahre in die Rezession. So wurde aus dem einst beliebtesten Politiker des Landes "der Dieb Lula", von dem auf Massendemonstrationen der weißen Mittel- und Oberschicht Puppen in Gefängniskleidung geschwenkt wurden. Lula musste das umso mehr schmerzen, weil seine Regierungszeit bis dato als erfolgreich gegolten hatte.
Er war 2003 Präsident geworden, weil er die Brasilianer mit dem Versprechen überzeugt hatte, er werde eine gerechtere Nation schaffen. Der immense Reichtum des Landes sollte allen zugutekommen, nicht mehr nur der kleinen weißen Elite. Lulas Regierung rief Sozialprogramme ins Leben, die von den UN als vorbildlich für andere Schwellenländer empfohlen wurden. Seine Regierung führte Quoten für Schwarze und Indigene an den Unis ein. Gleichzeitig wuchs die Wirtschaft jährlich im Schnitt um vier Prozent. Brasilien zahlte seine Schulden beim Internationalen Währungsfonds (IWF) zurück, der Mindestlohn stieg.
Es entstanden Millionen versicherungspflichtiger Jobs, die Regierung beendete den Hunger und machte Brasilien zum Nahrungsmittelgiganten. Das Land belieferte den Globus mit Soja, Mais, Fleisch, Zucker, Kaffee und Orangen. Es exportierte auch jenes Eisenerz, aus dem die Chinesen den Stahl für ihre Städte gossen und baute die Ölförderung aus. Auch boomte der Binnenkonsum. 2011, am Ende von Lulas Amtszeit, war Brasilien die sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt. Das alles sollte nicht mehr gelten?
2016 wurde Lulas Nachfolgerin im Präsidentenamt, Dilma Rousseff, in einem fragwürdigen Verfahren vom Kongress abgesetzt. Bis heute spricht Lula von einem Putsch. Dann, 2017, wurde Lula selbst von Richter Moro wegen "passiver Korruption" zu neun Jahren Haft verurteilt – ein Urteil, das 2018 in zweiter Instanz auf zwölf Jahre Haft erhöht wurde. Damit war Lula von der Präsidentschaftswahl im gleichen Jahr ausgeschlossen.
Es gewann der ultra-rechte Hinterbänkler und ehemalige Militär Jair Bolsonaro. Er machte Richter Moro zum Justizminister. Bolsonaro war bis dato vor allem durch homophobe Sprüche, die Verteidigung der Militärdiktatur und einen tiefen Hass auf Lula und dessen Arbeiterpartei PT aufgefallen. Er behauptete, er sei von Gott gesandt worden, um Brasilien vor dem Kommunismus zu retten. 55 Prozent der Wähler votierten für ihn.
In São Paulo auf der Bühne warnt Lula vor der Diktatur, die bei einem Sieg Bolsonaros drohe. Er sei der Garant dafür, dass das nicht geschehe. "Wir werden Brasilien zurückgewinnen. Wenn ich Präsident bin, werden wieder alle Brasilianer in den Präsidentenpalast einziehen. Er ist das Haus des Volkes."
Dass Lula überhaupt zur Wahl antreten darf, hat mit einem Urteil des Obersten Gerichtshofs 2019 zu tun. Es erklärte Lulas Inhaftierung indirekt für rechtswidrig. Nur einen Tag nach dem Richterspruch verließ er seine Zelle, seine politischen Rechte wurden wieder hergestellt. Später entschied das Gericht, dass Richter Moro parteiisch agiert habe. Im April 2022 befand der UN-Menschenrechtsausschuss, der Lula-Prozess habe gegen die Regeln eines ordentlichen Verfahrens verstoßen. Allerdings wurde damit nicht Lulas Unschuld festgestellt, wie seine Gegner betonen.
In den 18 Monaten seiner Haft starb Lulas zweite Frau, die beiden waren 43 Jahre lang verheiratet gewesen. Dann starb sein siebenjähriger Enkel. Aber Lula lernte in der Zeit auch seine neue Frau kennen, die ihm wie Tausende andere Brasilianer Briefe schickte, auf die er ihr schließlich täglich antwortete.
Lula wurde 1945 als siebtes von acht Kindern einer bitterarmen Familie im Nordosten Brasiliens geboren. Sieben Jahre später zog seine Mutter mit den Kindern nach São Paulo, wo Lula an Wochenenden Orangen verkaufte und Brennholz sammelte, um die Familie zu unterstützen. Als er mit zwölf die Schule verließ, begann er, in einer Färberei zu arbeiten und besuchte eine staatliche Berufsschule. Aber dann zerquetschte er sich in einer Metallfabrik den kleinen linken Finger. Es dauerte Stunden, bis ein Arzt eintraf, der Finger musste amputiert werden.
Als Lula mit 23 zum ersten Mal heiratete, starb seine Frau wenig später an Hepatitis. Sie war im achten Monat schwanger, auch das Kind überlebte nicht. Lula redet häufig über diese für ihn prägenden Jahre. Er wisse, was es bedeute, arm zu sein und keinen Zugang zum Gesundheitssystem zu haben.
Doch dank seines rhetorischen Talents wurde Lula 1975 zum Chef einer großen Stahlarbeitergewerkschaft in São Paulo gewählt. Inmitten der Militärdiktatur organisierte er Streiks und wurde verhaftet. 1980 gründete er mit Gleichgesinnten die Arbeiterpartei und trat nach der Rückkehr Brasiliens zur Demokratie drei Mal als Präsidentschaftskandidat an, eher er 2002 gewählt wurde.
"Ich habe Lula alles zu verdanken", sagt Quênia Emiliano. Die 31-Jährige beendet gerade ihr Jura-Studium an der Bundesuniversität in Rio de Janeiro, einer der besten Hochschulen des Landes. Sie erinnert sich, wie sie sich zum Praktikum bei der Staatsanwaltschaft von Rio vorstellte und wie groß dort die Überraschung gewesen sei. Denn Emiliano ist schwarz. "Die Machtpositionen gehören in Brasilien den Weißen", sagt sie in der Uni-Mensa. "Die Schwarzen machen sauber." Emiliano hat sich hochgekämpft, ihr Vater war Straßenverkäufer, dessen Großvater Sklave. Sie strebt nun eine Karriere als Anwältin an. Lula habe bei ihr und Millionen anderen Brasilianern die Hoffnung auf ein besseres Brasilien geweckt, sagt sie. Und er habe konkrete Möglichkeiten dafür geschaffen. "Ich habe sie ergriffen."
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