Zeit- und Beziehungsdrama

Jahrhundertfrauen: Männer haben’s schwer

NEU IM KINO: "Jahrhundertfrauen" von Mike Mills ist ein betörendes Zeit- und Beziehungsdrama.  

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As time goes by: Annette Bening als Do..., Lucas Jade Zumann als ihr Sohn Jamie  | Foto: splendit
As time goes by: Annette Bening als Dorothea, Lucas Jade Zumann als ihr Sohn Jamie Foto: splendit
Santa Barbara, Kalifornien, 1979: Das ist der Ort, das ist die Zeit der "Jahrhundertfrauen" im gleichnamigen (im Originaltitel: "20th Century Women") Spielfilm des US-Amerikaners Mike Mills. Nein, damit sind weder Superweiber gemeint noch Heldinnen der Zeitgeschichte, sondern einfach drei Frauen unterschiedlichen Alters – Mitte 50, Mitte 20 und 17 –, in deren zugleich typischen wie individuellen Lebensentwürfen und Vorstellungen von weiblicher Identität aber fast ein ganzes Jahrhundert aufscheint.

Dorothea (Annette Bening) wurde 1924 geboren und mit 40 Mutter; der Vater ihres einzigen Kindes ist schon lange weg, was bislang kein Problem war, aber jetzt, da Jamie (Lucas Jade Zumann) 15 ist, wäre ein wenig Beistand nicht schlecht. Für ihn wohlgemerkt, beim Erwachsenwerden. Den erbittet sie von Jamies bester Freundin Julie (Elle Fanning) und von ihrer Untermieterin Abbie (Greta Gerwig). Die gibt zu bedenken, dass Jamie doch eigentlich eine männliche Bezugsperson fehlt. Ja, ja, das hat Dorothea auch schon gedacht, und mit William (Billy Crudup), dem sie ebenfalls ein Zimmer vermietet hat, lebt sogar schon eine unterm gleichen Dach, aber der Junge kann nicht viel anfangen mit ihm und seiner ewigen Handwerkelei in dem alten Haus.

Es wird eine bewegte Zeit, die Jamie mit den drei Frauen erlebt und in der er nicht unbedingt zum Manne reift, aber zum Frauenversteher – was freilich in den späten Siebzigern eine gesellschaftlich durchaus anerkannte Ausprägung von Männlichkeit war. Die Mutter wird Jamie allerdings nie verstehen, dazu ist sie einfach zu vielschichtig, spontan, kreativ, unkonventionell. Und vielleicht auch ein bisschen zu alt für die moderne Zeit ...

Wenn ihr klappriger Ford Galaxy auf dem Parkplatz des Supermarkts in Flammen aufgeht und Dorothea um das alte Auto trauert, weil darin vor 15 Jahren ihr Neugeborenes vom Krankenhaus nach Hause gefahren wurde, könnten sich einem als Teenie die Zehennägel einrollen vor Peinlichkeit. Aber wenn sie Jamies Schuleschwänzen damit entschuldigt, er habe "ehrenamtlich für die Sandinisten gearbeitet", dann legt der Sohn schon mit ordentlich lässigem Stolz den Brief seiner coolen Mama der Schulsekretärin vor.

Jamie bewundert, verehrt, liebt sie, aber er kann ihr nicht ersparen, dass sie sich um ihn sorgt. Etwa wenn er mit dem Skateboard auf gefährlichen Pisten unterwegs ist oder beim Experimentieren mit Hyperventilation und Brustkorbpresse beinahe nicht mehr aus der Ohnmacht erwacht. Sowas kennt seine Mutter nicht: Als sie in seinem Alter war, brach gerade der Zweite Weltkrieg aus, da brauchte man keine Ohnmachtsspiele. Und als er zu Ende war, erst recht nicht. Dorothea – schon damals eine unerschrockene Frau – wollte Pilotin werden, aber die Ausbildung konnte sie nicht mehr beenden, das Leben ist kein Wunschkonzert.

Liebeserklärung

an die eigene Mutter

– und an alle Mütter

Der 1966 – also zwei Jahre später als sein Alter Ego Jamie – geborene kalifornische Filmemacher, Künstler und Grafikdesigner Mike Mills versteht "Jahrhundertfrauen" nicht zuletzt als Liebeserklärung an seine Mutter. Der Vater, der sich im Alter von 75 outete, inspirierte Mills zu seinem Schwulendrama "Beginners" (2010), jetzt setzt er der Mutter, zu der er eine ungleich engere Bindung hatte, ein Denkmal. Aber nicht nur ihr, auch dem stillen Wendepunkt der US-Nachkriegsgeschichte, den das Jahr 1979 markiert.

Kurz vor Ende seiner Präsidentschaft beklagte Jimmy Carter in einer vielbeachteten Fernsehansprache Materialismus und Konsumgier, in Detroit wurden zum ersten Mal Spritfresser und Autolobby kritisiert, im Silicon Valley tüftelte Apple am ersten Mac. Was aus alldem werden sollte, war noch nicht zu ahnen, in Mills’ Film ist aber bereits die Wehmut zu spüren, dass nichts bleibt, wie es war. Für Jamie immerhin hat die Zukunft noch nicht begonnen. Er wird nur üben dafür. Mit Julie, die gerne neben ihm schläft, aber nicht mit ihm, weil sie ihn als Freund will und nicht als noch einen Sexpartner, macht er einen Schwangerschaftstest (der in diesem Jahr erstmals in der Apotheke frei verkäuflich war). Mit Abbie geht er zur Krebsnachsorge und zu Punknächten. Er vertieft sich in feministische Literatur über weibliche Anatomie und Orgasmen, er deklamiert das Zauberwort Menstruation: Männer haben’s schwer ...

Ausgerechnet bei Dorothea aber darf er noch einmal einfach nur hirnrissiger Heranwachsender sein: auf rasendem Skateboard, angehängt ans Auto, mit dem sie ihn über den Highway zieht. Ein begnadeter Moment, vielleicht der innigste mit ihr, wie er im Rückblick sinniert. Und eine der berührendsten Szenen dieses an visuellen, emotionalen und inhaltlichen Highlights wahrlich nicht armen Films, ein leuchtendes Bild für die Liebe einer Mutter, die ihr Kind unterstützt, auch wenn ihr schier das Herz bricht dabei.

Für "Beginners" bekam Christopher Plummer einen Oscar, und für "Jahrhundertfrauen" hätte Annette Bening, die hier – witzig, warmherzig und weise – eine der besten Performances ihrer Karriere abliefert, ebenfalls einen verdient gehabt. Aber auch die anderen Darsteller spielen glänzend auf: Greta Gerwing, der neue Star des Independentfilms, als zerbrechliche Punklady, Elle Fanning, die demnächst als "Frankenstein"-Autorin Mary Shelley im Kino zu sehen sein wird, als Jugendliche zwischen sexueller Libertinage und Sehnsucht nach Beziehung – und Newcomer Lucas Jade Zumann als hinreißend moderner Kindmann.

Sie alle machen das oscarnominierte Drehbuch von Mike Mills zum betörenden Drama, melancholisch und komisch, sonnig und zart bewölkt vom Unwiederbringlichen des "time goes by". Der schönste Film des Monats und die wahrscheinlich kurzweiligste Art, auf den Sommer zu warten.

"Jahrhundertfrauen" (Regie: Mike Mills) kommt am Donnerstag in die Kinos. (Ab 0)

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