Virtuelles Leben
Immer online sein – so gefährlich ist die Internetsucht
Theo Fischer lebt in Chatforen und Singlebörsen. Dort fühlt er sich nicht einsam. Sein Studium vernachlässigt er schon lange. Erst mit einer Verhaltenstherapie gelang es ihm die Internetsucht zu überwinden.
Sa, 5. Mär 2016, 11:38 Uhr
Computer & Medien
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Während andere an ihrer Hausarbeit feilen oder auf Klausuren lernen, hängt Theo in Psychologie-Chatforen, in Singlebörsen oder auf "Befindlichkeitsseiten", wie er es nennt. Er wartet auf Plings, überarbeitet seine Profile und recherchiert stundenlang, wenn ihm sein virtuelles Gegenüber Fragen stellt. "Zu Hause geht das gerade so weiter", schildert er. "Ich schlafe nachts wenig, mein Rhythmus ist durcheinander. Ich esse auch nicht mehr richtig." Sein Studium – zehn Semester hat er schon auf dem Buckel – hat er völlig vernachlässigt.
In Deutschland leidet nach dem jüngsten Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung etwa ein Prozent der Bevölkerung unter einer "manifesten Internetabhängigkeit", weitere 4,6 Prozent der Deutschen weisen ein Suchtverhalten auf, das in eine solche Abhängigkeit münden könnte. Diese besteht nach Expertenmeinung dann, wenn die Internetnutzung nicht mehr kontrolliert werden kann und "zu bedeutsamem Leiden" oder "zu einer Beeinträchtigung der Funktionalität im Alltag führt". Auf Theo trifft die Definition voll zu. Typisch auch: Er wollte lange Zeit nicht wahrhaben, dass sein Verhalten das eines Süchtigen ist. Er gehört auch nicht zu den klassischen Netzjunkies, den Computerspielsüchtigen, die sich eine neue Identität in einer Parallelwelt zulegen, für viele Stunden in diese eintauchen und allmählich den Bezug zur Realität verlieren. "Diese Spielwelten haben mich nie gereizt", sagt Theo. "Ich gehöre zu denen, die einsam sind, die eine innere Leere verspüren. Diese versuche ich ständig zu füllen." Er schaltet immer wieder seinen PC an, es könnte ja eine neue Nachricht angekommen sein.
Dass der von Kontaktbörsen abhängige Personenkreis ziemlich rasch wächst, erfuhr das Bundesgesundheitsministerium vor drei Jahren, als die Pinta-Studie veröffentlicht wurde. Darin steht, dass mittlerweile genauso viele Personen süchtig nach sozialen Netzwerken sind wie nach Computerspielen und der Leidensdruck vergleichbar ist. Trotzdem: In die Beratungsstellen und Kliniken kommen fast nur Computerspielsüchtige. "Wir haben derzeit nur Gamer bei uns", teilt die AHG-Klinik Münch wies mit, die Internetsucht stationär behandelt.
Woher die Diskrepanz rührt, kann bisher nur vermutet werden. Der Mainzer Psychologe Kai Müller glaubt, dass Menschen, die von sozialen Netzwerken abhängig sind, ihre Sucht mit dem Alltag besser vereinbaren und dadurch leichter kaschieren können. "Computerspielsüchtige müssen dagegen mehrere Stunden am Stück an einem festen PC verbringen", sagt er. "Das geht nicht mal zwischendurch am Handy." Der Tübinger Suchtmediziner Kay Petersen kann sich vorstellen, dass Computerspielsucht in der Gesellschaft als größere Gefährdung wahrgenommen wird. "Sie ist außerdem besser erforscht", sagt er. Deshalb seien die Therapien stärker an ihr ausgerichtet.
Auch Theo wäre von selbst nicht auf die Idee gekommen, sich therapieren zu lassen. Er ist Single und lebt allein. Als Student, der seinen Tagesablauf selbst gestalten kann, gehört er zu einer Risikogruppe. Erst als in seinem Maileingang ein Rundbrief der Uniklinik für Psychiatrie und Psychotherapie landete, in dem Personen mit Verdacht auf Internetsucht aufgefordert wurden, an einer Therapiestudie teilzunehmen, legte er die Scheuklappen ab. "Ich las den Kriterienkatalog, da wurde mir klar: Du gehörst dazu."
Noch gibt es keine Therapie, die sich speziell mit der Abhängigkeit von sozialen Netzwerken befasst. Bisher würden die Betroffenen in aller Regel zu den Computerspielsüchtigen gesteckt, beobachtet der Suchtmediziner Petersen, der vor wenigen Jahren die Therapieangebote in Deutschland untersucht hat. Oft werde nicht einmal zwischen den Online-Gamern und den normalen Glücksspielern unterschieden. Im April will er eine aktualisierte Bestandsaufnahme vorlegen. "Das könnte dazu beitragen, die Angebote künftig stärker an den Zielgruppen auszurichten", so Petersen.
Therapien gegen Internetsucht gibt es nicht auf Rezept, sie ist als "stoffungebundene Süchte" von den Krankenkassen nicht als Verhaltenssucht anerkannt. Ärzte müssen sich mit Diagnosen wie "Impulskontrollstörung" oder "depressive Verstimmung" behelfen, damit die Kassen trotzdem für eine Therapie aufkommen. Auch "die Forschung hinkt der Entwicklung hinterher", sagt Petersen. Denn die Forscher seien sich uneinig, ob die Internetabhängigkeit tatsächlich eine Suchtstörung ist. "Man kann sich nicht einmal auf einen einheitlichen Namen für eine Diagnose einigen."
Die Therapien kommen entsprechend aus der klassischen Suchtbehandlung – Theo hat eine Verhaltenstherapie besucht. In Einzel- und Gruppengesprächen lernen die Teilnehmer, ihr Suchtverhalten selbst zu analysieren. Danach werden ihnen Wege in die Abstinenz aufgezeigt. "Ich habe einiges probiert", erzählt Theo. Er sperrte problematische Seiten – und verschaffte sich über das Administrator-Konto kurz darauf wieder Zugang zu ihnen. Er zog die Software für den WLAN-Zugang von seinem Notebook, machte Deals mit sich: einen Tag Zugang, einen Tag keinen. Jetzt hat er das WLAN bei sich zu Hause abgemeldet. "So komme ich zumindest zu meinem Schlaf."
Einen klaren Schnitt zu machen ist für ihn viel schwerer als für Computerspielsüchtige. Wie bei Bulimikern, die trotzdem essen müssen, kann auch er sich dem Internet nicht ganz entziehen. Die Gamer hingegen können sich von ihrem Spiel abmelden und ihren "Avatar" – ihre Online-Identität – zum Beispiel auf Friedhöfen digital zu Grabe tragen. "Der Abschied kann äußerst schmerzvoll sein, hilft aber den Betroffenen, das Kapitel auch ein für alle Mal abzuschließen", sagt die Psychologin Sara Hanke, die das Therapiekonzept in Tübingen begleitet.
Parallel zu dem Prozess, sich von den Webseiten zu lösen, müssen die Teilnehmer sich Gedanken machen, wie sie die frei werdende Zeit verbringen wollen. "Das Internet frisst ja alle Interessen der Abhängigen auf. Wenn das Vakuum nicht gleich gefüllt wird, ist die Rückfallgefahr groß", stellt Hanke fest. "Nach all der Reizüberflutung fällt es vielen schwer, etwas zu finden, das sie ähnlich in den Bann zieht wie der Computer", so Hanke.
Die Regierung der Internetnation Südkorea hat unterdessen zu drastischen Maßnahmen gegriffen. Dort hat nahezu jeder Haushalt schnelles Breitbandinternet – und jeder zehnte ist Studien zufolge onlinesüchtig.
In einer ersten Phase gab es Sperrzeiten für bestimmte Server, dann mussten die Hersteller ihre Spiele neu gestalten, es gibt Camps in den Bergen, in denen Internetsüchtige ein Leben ohne Internetanschluss und Handy neu lernen sollen. Die dortigen Erfahrungen ließen sich aber nur schwer auf Deutschland übertragen, sagt Suchtexperte Petersen.
Theo hat seine Sucht heute weitgehend besiegt. "Von den schlimmsten Chatforen habe ich mich abgemeldet", sagt er. Wie er das Vakuum füllen kann, darüber muss er nicht lang nachdenken. "Ich hätte gern eine Freundin", sagt er. Eine reale.
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