Freiburger Uniklinik

Wenn Kinder sterben: So hilft das Freiburger Palliative Care Team

Das "Palliative Care Team" der Freiburger Uniklinik versorgt schwerkranke Kinder und Jugendliche bis zu ihrem Tod zu Hause. Ein Besuch bei zwei betroffenen Familien.  

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Miriam van Buiren (Mitte) und Gabi Dietz untersuchen Neyla. An welcher Krankheit die Dreijährige leidet, wissen die Ärztinnen und Ärzte nicht. Foto: Sina Gesell
Die kleine Brust hebt und senkt sich unter der flauschigen Decke mit den pinkfarbenen Krönchen darauf, ab und zu ist ein leises Schnaufen zu hören. Neyla* liegt entspannt auf dem Sofa, die Augen halb geschlossen, an ihrer Seite sitzt ein Teddybär. "Na, meine Prinzessin", sagt Gabi Dietz und hält die Hand der Dreijährigen. Währenddessen schiebt Miriam van Buiren den Pullover des Mädchens ein Stück nach oben, legt das Stethoskop an und hört Atmung und Herzschlag des Kindes ab. "Das klingt doch ganz gut." Die Kinderärztin ist zufrieden, Neyla geht es besser als beim vorangegangenen Besuch. Zumindest was zu hören ist. Denn woran das kleine Mädchen leidet, weiß Miriam van Buiren nicht. Niemand weiß es. Was man weiß: Neyla wird nicht erwachsen werden.

Miriam van Buiren leitet das elfköpfige "Palliative Care Team" am Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin der Freiburger Uniklinik, das vor einem Jahr seine Arbeit aufgenommen hat. Gemeinsam mit der Kinderkrankenschwester Gabi Dietz besucht die 46-Jährige an diesem Tag die Familie Belkadhi*, die in einer Gemeinde nahe des Bodensees lebt. Tochter Neyla gibt den Medizinern Rätsel auf. Ihr Krankheitsbild wurde schon beim Fachsymposium "Der ungelöste Fall" vorgestellt. Ohne Erfolg. "Die Ungewissheit ist besonders schlimm", sagt Mutter Sarah Belkadhi* und blickt zu ihrem Mann Amin*, der ihre Hand hält.

Nicht die Heilung, sondern das Leid zu lindern, steht im Vordergrund

Sarahs Schwangerschaft verlief normal, nach der Geburt zeigte Neyla aber Auffälligkeiten: Sie atmete wenig, konnte nicht richtig schlucken, die Blutwerte stimmten nicht, Leber und Milz waren zu groß, die Hirnströme zeigten Auffälligkeiten, außerdem hörte sie schlecht, verkrampfte oft und weinte viel. "Sie hat uns so leidgetan", erinnert sich der Vater, "sie hatte Schmerzen und wir konnten nichts tun." Mit neuen Medikamenten haben die Muskelkrämpfe seit ein paar Monaten nachgelassen. Auch an diesem Tag stellt van Buiren ein Rezept aus.

Ziel des elfköpfigen Uniklinik-Teams aus Ärzten, Pflegekräften und einer Sozialarbeiterin ist es, dass schwerkranke Kinder und Jugendliche mit verkürzter Lebensdauer bis zu ihrem Tod zu Hause versorgt werden können. "Als Ärztin ist es natürlich frustrierend, ein Kind sterben zu sehen und es nicht heilen zu können", sagt van Buiren. "Hier sind wir keine Lebensretter mehr, aber meist können wir den Schmerz ein Stück weit nehmen, das Leid lindern." Bei Neyla scheint das vorerst gelungen. "Sie lässt sich sogar wieder in den Arm nehmen", erzählt die 28-jährige Mutter, die tagsüber stundenweise Hausaufgabenbetreuung gibt. Dann kümmert sich eine Pflegekraft um Neyla, manchmal springen die Großeltern ein. Amin Belkadhi hat einen Vollzeitjob als Verfahrensmechaniker. "Wir müssen funktionieren", sagt der 32-Jährige, "es ist unser Schicksal."

Wie viel Zeit ihnen noch mit ihrer Tochter bleibt, wissen die Belkadhis nicht. "Ich will nicht an Morgen denken", sagt die Mutter. "Jetzt ist sie da und wir lieben sie über alles", sagt der Vater. Gerne hätte das Paar ein zweites Kind. "Aber solange wir nicht wissen, was Neyla hat, wollen wir nichts riskieren." Denn da die Ursache der Erkrankung noch nicht bekannt ist, kann ein Gendefekt nicht ausgeschlossen werden. Dann wäre möglicherweise das Risiko höher, dass auch das nächste Kind nicht gesund zur Welt kommt, erklärt van Buiren.

Einen grünen Pin für Neyla statt eines roten

Nach der Untersuchung erkundigt sich die Palliativmedizinerin, ob Neyla schlafen kann, wie es mit den Medikamenten klappt und wie sie mit dem Cochlea-Implantat zurechtkommt. Das kleine, grün blinkende Hörgerät ist an Neylas Pullover befestigt. "Sie hört so gerne Musik", sagt Sarah Belkadhi und lächelt. Das Gespräch ist entspannt. "Der erste Besuch ist oft schwieriger", sagt van Buiren später. "Die Eltern haben meist noch nicht angenommen, dass ihr Kind nicht gesund wird."

Zu jeder Tages- und Nachtzeit können Eltern beim Uniklinik-Team in Freiburg anrufen. Wenn es sein muss, kommt jemand vorbei. Das kann in manchen Fällen eine Weile dauern. Auf einer Pinnwand in dem kleinen Büro hängt eine Karte mit dem Gebiet, das bis zum Bodensee, nach Baden-Baden und in den Hotzenwald reicht: Die knapp 20 roten Pins kennzeichnen den Wohnort der derzeit betreuten Kinder; die grünen zeigen jene jungen Patienten, denen es besser geht und die das Ärzte- und Pflegeteam vorerst nicht mehr besucht. Van Buiren zieht eine rote Stecknadel heraus, steckt dafür eine grüne hinein – für Neyla. "Sie braucht uns erst mal nicht mehr." Und dann gibt es noch die gelben Pins an der Wand. Es sind bis zu diesem Tag 16. Jede Nadel steht für ein Kind, das seit der Gründung des Teams vor etwa einem Jahr gestorben ist.

"Sie wissen meist früher als ihre Eltern, dass sie sterben" Gaby Dietz
Gabi Dietz hat viele junge Patienten sterben sehen, die Krankenschwester arbeitete 40 Jahre lang auf der Kinderkrebsstation in der Uniklinik. "Bei all der Traurigkeit und Verzweiflung kann das Sterben auch ein schöner Moment sein", sagt die 62-Jährige. Für die Kinder sei es oft eine Erlösung, der Tod komme für sie nicht unerwartet. "Sie wissen meist früher als ihre Eltern, dass sie sterben", sagt Dietz. Sie erzählt von Vierjährigen, die ihren Nachlass regeln und ihre Teddybären verschenken. Und von Älteren, die ihre eigene Beerdigung planen, Lieder dafür aussuchen, eine Gästeliste schreiben.

Krebskranke Kinder werden von Ärzten und Pflegern des Universitätsklinikums schon länger zu Hause betreut. Mit dem "Palliative Care Team" wurde die Versorgung auf andere Krankheiten ausgeweitet. Die meisten der Kinder und Jugendlichen leiden an Stoffwechselerkrankungen oder einer Nervenkrankheit.

So wie die siebenjährige Celine. Sie lebt mit ihrer Mutter und ihren beiden Geschwistern in Villingen-Schwenningen, unlängst sind sie erst in eine größere Erdgeschosswohnung gezogen. In verschnörkelte Buchstaben steht an der Wand im Flur: "Wir haben vielleicht nicht alles, was wir wollen. Zusammen sind wir alles, was wir brauchen." Darunter liegt Celine auf einer Deckenlandschaft am Boden, ab und zu dreht sie ihren Kopf von der einen zur anderen Seite. Aus dem Radio dudelt die Popschnulze "Das Beste" von Silbermond. Ramona S. füttert ihre Tochter gerade, mit einer Spritze über einen Schlauch, der in den Magen des Mädchens führt. Van Buiren übersetzt so lange Arztbriefe für die Mutter und bespricht die Dosierung diverser Medikamente.

Alle Beteiligte wissen, was im Notfall zu tun und was zu lassen ist

Celine ist als gesundes Kind zur Welt gekommen. Ihre Mutter zeigt alte Fotos. Auf einem schaut Celine mit großen Kulleraugen in die Kamera, auf einem anderen hält sie ihren kleinen Bruder im Arm. Als sie knapp drei Jahre alt war, "habe ich gemerkt, dass etwas nicht stimmt", erinnert sich Ramona S., "sie war wacklig auf den Beinen, hat Wörter verlernt."

Die Siebenjährige leidet an einer sogenannten Neuronalen Ceroid-Lipofuszinose, kurz NCL oder im Volksmund Kinderdemenz – eine seltene Krankheit, an der eines von 30 000 Neugeborenen erkrankt. "Nach der Diagnose ging alles ganz schnell", sagt Ramona S. Heute kann Celine weder laufen noch sehen oder sprechen, vor zwei Jahren hatte sie ihren ersten Krampfanfall – um zwei Uhr nachts. "Seitdem wache ich jede Nacht um zwei auf und sehe nach ihr", erzählt die Mutter. Bis vor Kurzem hat Celine noch die Schule besucht, jetzt wehrt sie sich dagegen, im Rollstuhl zu sitzen. Der Gendefekt führt meist im Alter von zehn bis 15 Jahren zum Tod.

"Ich weiß, dass wir nicht mehr x Jahre zusammen haben", sagt Ramona S. Sie berichtet von schlimmen Momenten, wenn die Kinder im Bett sind, sie Zeit zum Nachdenken hat und sich fragt "Warum muss mein Kind sterben?" Wenn es so weit ist, "möchte ich sie im Arm halten". Die 33-Jährige streicht ihrer Tochter liebevoll über die Stirn. "Es ist okay, wenn sie geht." Anfangs hätten ihr Ärzte gesagt, dass Celine irgendwann ersticken würde. "Der Gedanke war für mich unerträglich." Miriam van Buiren macht ihr Hoffnung: "Wenn Celine stirbt, passiert das nicht aus heiterem Himmel." Die Medizinerin rechnet damit, dass das Mädchen friedlich einschläft.

"Mama, meine Schwester wird nicht mehr gesund, oder?" Celines Bruder
Trotzdem hat sich die Mutter mit Hilfe des "Palliative Care Teams" auf den Notfall vorbereitet. Sie zeigt ein Schreiben, fast alle Fragen sind mit Nein angekreuzt. Für den Notarzt bedeutet das, dass er Celine weder intubieren noch reanimieren soll. Das Uniklinik-Team, das die Familie etwa einmal im Monat besucht, arbeitet mit Ärzten und Diensten vor Ort zusammen. Auch sie wissen Bescheid, was im Notfall zu tun und was zu lassen ist. Zusammen wollen sie eine Lösung finden, damit Celine wenigstens einen Tag in der Woche zur Schule kann. Auch wenn die Mutter sie nur ungern gehen lässt. "Ich habe sie am liebsten bei mir."

Celine ist unter ihrer Hello-Kitty-Decke eingeschlafen, ab und zu gluckert es leise aus ihrem Bauch. Vielleicht hat sie ausgeschlafen, wenn ihre Geschwister von der Schule beziehungsweise vom Kindergarten nach Hause kommen. Besonders ihre Schwester leide sehr unter der Situation, sagt Ramona S. Eine Sozialarbeiterin der Caritas kümmert sich um die Zwölfjährige, macht mit ihr Unternehmungen. Celines fünfjähriger Bruder dagegen ist mit der Krankheit seiner Schwester aufgewachsen. "Er kennt es nicht anders", sagt die Mutter. Fragen stelle er natürlich trotzdem: "Mama, meine Schwester wird nicht mehr gesund, oder?"

*Name von der Redaktion geändert
Palliativversorgung

Seit 2007 hat jeder Todkranke in Deutschland einen gesetzlichen Anspruch, bis in den Tod zu Hause palliativ versorgt zu werden. Deshalb forderte auch das Sozialministerium, palliative Versorgung für Kinder und Jugendliche flächendeckend im Land zu ermöglichen. Daraufhin nahmen 2016 in diesem Bereich SAPV-Teams (spezialisierte ambulante Palliativversorgung) für den Raum Stuttgart, Ulm-Ravensburg, Tübingen, Heidelberg und Freiburg die Arbeit auf. "Palliative Care" ist nach Definition der Weltgesundheitsorganisation "ein Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und ihren Familien, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung konfrontiert sind".

Der Bundesverband Kinderhospiz in Lenzkirch geht deutschlandweit von 40 000 Kindern und Jugendlichen mit lebensbegrenzender Erkrankung aus. In Baden-Württemberg sind es Schätzungen zufolge etwa 5000. In vielen Städten sind ambulante Kinderhospizdienste aktiv, dafür gibt es bislang kein stationäres Kinder- und Jugendhospiz im Land. Das erste soll im Herbst in Stuttgart eröffnen. 2008 wurde in Freiburg ein Förderverein gegründet, dessen Ziel ein Kinder- und Jugendhospiz in Südbaden ist. "Der Bedarf ist groß", sagt die Vorsitzende Ellen Völlmecke. Doch die Suche nach Kooperationspartnern gestalte sich schwierig. Das Freiburger SAPV-Team sei ein erster Schritt für eine bessere Versorgung. Kontakt: Tel. 0761/27044410.

Infos zum "Palliative Care Team": www. mehr.bz/palliativ-fr.de

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