Fall Eric Garner
Diese tief sitzende Wut
Eric Garner wurde von weißen Polizisten zu Tode gewürgt / Seitdem kämpft seine Mutter Gwen Carr gegen Rassismus – und neuerdings auch gegen Präsident Trump.
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Gwen Carr – blond gesträhnte Haartolle, weißes Kleid, Badelatschen – erhebt sich von ihrer beigen Couch im Wohnzimmer, läuft zur Wand, wo mehrere Fotos ihres Sohnes hängen: Sie zeigen Eric Garner, der vor zweieinhalb Jahren von Polizisten zu Tode gewürgt wurde, weil er illegal Zigaretten verkaufte. Ein Mann, 43 Jahre alt, der wohl auch sterben musste, weil er schwarz war. "Ich wollte mich damals einfach nur in mein Bett legen und nie wieder aufwachen", sagt Carr, als sie auf die Bilder blickt.
Gwen Carr blieb nicht liegen. Sie spürte eine Wut in sich. Als Eric Garner umgebracht wurde, führte mit Barack Obama der erste schwarze Präsident die USA. Nun ist mit Trump einer gefolgt, der vom Ku-Klux-Klan beklatscht wird. "Da ist es doch meine Pflicht", sagt Carr, "Trump zu bekämpfen." Selbst wenn sie dadurch im Gefängnis landet.
Carr berichtet so abgeklärt von ihrer Festnahme, als hätte sie das alles schon tausendmal erlebt. Wie Polizisten sie vor gut zwei Wochen aufgreifen, ihr Kabelbinder anlegen, sie einmal quer durch Manhattan zur Hauptwache der New Yorker Polizei (NYPD) fahren. Wie sie Fotos von ihr machen, sie stundenlang warten lassen. Aufgeregt war sie nicht. Sie wusste ja, was man ihr zur Last legte: zivilen Ungehorsam.
Rund 30 Demonstranten hatten sich an jenem Abend vor dem Trump-Tower an der Fifth Avenue in Midtown Manhattan versammelt. Es war der Tag, an dem Donald Trump seinen Kandidaten für den Supreme Court, das höchste Gericht der Vereinigten Staaten, präsentierte: Neil Gorsuch, ein rechtskonservativer Richter. Organisiert wurde der Protest vom National Action Network, einer Bürgerrechtsorganisation, deren Mitglied Carr seit zwei Jahren ist. "Wir haben den Verkehr blockiert, und als uns die Beamten aufgefordert haben zu gehen, sind wir geblieben", erzählt sie. Elf Demonstranten wurden abgeführt. Für Gwen Carr war es die erste Festnahme ihres Lebens. "Die Polizei hat mich anständig behandelt", sagt Carr.
Zweieinhalb Jahre ist es her, dass Gwen Carrs Sohn zum letzten Mal festgenommen wurde. Gut 30-mal hatte ihn die Polizei mitgenommen, seit er ein Jugendlicher war. Als Eric Garner an jenem Nachmittag im Juli 2014 wieder einmal von den Beamten kontrolliert wurde, wirkte er vor allem eines: genervt. "Lasst mich in Ruhe, das hier ist meine Angelegenheit", sagte Garner, der seit ein paar Jahren unversteuerte Zigaretten auf der Straße verkaufte. Die Beamten ließen ihn nicht in Ruhe, sie rissen ihn im Würgegriff zu Boden, pressten seinen Kopf auf den Asphalt. Eine Stunde später war der Mann tot.
Weil ein Freund den Vorgang mit einem Handy gefilmt hatte, gingen Garners letzte Worte um die Welt: "I can’t breathe (Ich kann nicht atmen)", röchelte der asthmakranke Mann elfmal hintereinander. Es wurde zum Hilfeschrei der Black-Lives-Matter-Bewegung, einer Bewegung, die sich gegen Gewalt gegen Schwarze einsetzt. Garners Tod entfachte Proteste von Los Angeles bis Washington D.C., plötzlich hielt auch Barack Obama Grundsatzreden über Rassismus. "Mein Sohn wäre noch am Leben, wenn er weiß gewesen wäre", sagt Gwen Carr, die bis heute seine Medikamente in einer Holztruhe aufbewahrt.
Doch es geht Carr nicht nur um ihren Sohn. "Trump will die Leute gegeneinander aufbringen. Wenn er so weitermacht, gibt es bald einen Bürgerkrieg", sagt Carr. Sie bedauert, dass sie so spät aus ihrer Lethargie aufgewacht ist. Wenn die 68-Jährige von ihren Auftritten erzählt, klingt es manchmal sogar nach schlechtem Gewissen. "Ich habe mich zu lange nicht um Politik gekümmert. Bin zur Arbeit, nach Hause, zur Arbeit, nach Hause, war einfach viel zu passiv", sagt Carr heute. Eine Stubenhockerin sei sie gewesen. "Ich war Teil des Problems. Ich hätte mich früher einmischen sollen." Doch zur Wahrheit gehört auch, dass sie in ihrem Leben lange andere Sorgen hatte als Politik.
Sie war 17 Jahre alt, als Martin Luther King, Jesse Jackson und die vielen anderen Aktivisten 1965 von Selma nach Montgomery marschierten. "Ich hatte Freunde im Süden, und wenn die zu Besuch kamen, haben sie von den Demonstrationen erzählt. Aber es fühlte sich weit weg an", sagt sie. 1970 kam Eric auf die Welt, ihr erster Sohn, der schon als Baby wegen Atemproblemen Monate im Krankenhaus verbrachte. "Er wollte Mechaniker werden, aber sein Asthma stand ihm im Weg." Carr musste sich neben ihren drei leiblichen Kindern auch um die drei Kinder ihres verstorbenen Bruders und um die drei Kinder ihres ersten Ehemanns kümmern. Als ihr Mann an einem Herzinfarkt starb, war Carr mit neun Kindern alleine. Die Familie wohnte damals in Downtown Brooklyn. "Im Haus war es immer ein bisschen zu eng", erinnert sie sich. Ihr zweitältester Sohn Emery wurde mit 18 bei einem Raubüberfall ermordet.
Mitte der 90er-Jahre zog die Familie nach Staten Island. Wann genau ihr Sohn Eric begann, Zigaretten zu verkaufen, kann die Mutter nicht mehr rekonstruieren. "Er hat sich mit verschiedenen Jobs durchgehangelt, um seine Familie zu ernähren", sagt Carr. Sie selbst arbeitete 22 Jahre als Zugführerin für die New Yorker Subway. Als sie die Nachricht von der Festnahme ihres Sohnes bekam, machte sie gerade eine Pause zwischen zwei Fahrten. Zu Hause auf Staten Island angekommen, standen schon die Boulevardreporter vor ihrer Haustür.
Der Tod ihres Sohnes wurde zum Politikum und bis ins Detail analysiert. Zeugen berichteten, dass der über 1,90 Meter große und 160 Kilogramm schwere Garner unmittelbar vor der Festnahme einen Streit zwischen zwei Bewohnern an der Bay Street geschlichtet hatte. Bekannt wurde auch, dass Daniel Pantaleo, der damals 29-jährige Polizist, der Garner würgte, bereits mehrfach von Bürgern wegen Fehlverhaltens verklagt worden war.
Als ein Geschworenengericht im Dezember 2014 verkündete, dass die beteiligten Polizisten nicht mal angeklagt werden – ohne die Entscheidung zu begründen –, gingen innerhalb weniger Stunden in vielen Großstädten die Menschen auf die Straße. Basketballsuperstars wie LeBron James oder Kobe Bryant zogen sich T-Shirts mit dem Aufdruck "I can’t breathe" über. Als Gwen Carr vor ein paar Wochen beim Woman’s March in Washington auf der Bühne stand, trug sie das gleiche Shirt. "Wir müssen Politikern mit unserer Stimme drohen", sagt Carr. "Ich habe zu lange überhaupt nicht gewusst, dass ich eine Stimme habe." Dafür wird sie nun umso deutlicher gehört. Sie kann irritierend autoritär klingen, wenn sie jetzt ihre Mitmenschen auffordert, sich über Lokalpolitik zu informieren, sich in der Nachbarschaft zu engagieren. Eine Strenge, die zu ihrer Vergangenheitsbewältigung gehört. Jede Woche marschiert sie nun mit den anderen Mitgliedern der Hilfsorganisation National Action Networks durch Manhattan. Sie hat Vorträge in etlichen Schulen gehalten. Und als der Wahlkampf zwischen Hillary Clinton und Donald Trump immer bizarrer wurde, verkündete Carr, dass sie von nun an für Clinton Werbung mache. "Sie hat sich bei mir gemeldet und wir haben uns getroffen."
Sie ist nicht die einzige Mutter, die der Tod eines Kindes politisiert hat. Im Sommer 2016 trat sie mit sechs Frauen beim Parteitag der Demokraten auf. Sie wurden als die "Mütter der Bewegung" bekannt. Dazu gehören unter anderem Lesley McSpadden, deren Sohn Michael Brown 2014 in Ferguson von einem Polizisten erschossen wurde, Geneva Reed-Veal, deren Tochter Sandra Bland 2015 wegen einer Ordnungswidrigkeit im Gefängnis landete und dort unter rätselhaften Umständen ums Leben kam, und auch Sybrina Fulton, deren 17-jähriger Sohn Trayvon Martin 2012 in Florida, auf dem Heimweg von einem Mitglied der örtlichen Bürgerwehr in die Brust geschossen wurde und starb. Der Schütze wurde freigesprochen. "Ich bin mit vielen dieser Mütter befreundet", sagt Carr. Erst kürzlich besuchte sie Sybrina Fulton in Florida, um an einer Benefizveranstaltung für die Familie teilzunehmen. Als Nächstes reist sie nach Oakland, wo vor acht Jahren der 22-jährige Oscar Grant von einem Polizisten erschossen wurde.
Das US-Justizministerium hatte 2014 eine unabhängige Untersuchung von Garners Tod angekündigt, doch Gwen Carrs Hoffnungen, endlich Aufklärung zu erhalten, haben sich zerschlagen. "Bitte hören Sie meinen Appell, bitte lassen Sie die Worte meines Sohnes und unsere Tränen nicht umsonst sein", schrieb Carr im vergangenen November an das Ministerium und forderte ein Resultat der Untersuchung. Bis heute hat sie keine Antwort.
"Wir müssen konstant dagegenhalten, sonst normalisiert sich Trump", sagt Carr. Sie will sich nicht mehr entmutigen lassen, keine Angst haben. "Gerechtigkeit für meinen Sohn gibt es sowieso nicht", sagt sie. Sie kämpft jetzt für andere.
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