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Freiburg

Die europaweite Bewegung "Pulse of Europe" ist im Breisgau angekommen

Sonntags eine Stunde lang zusammenkommen, reden und nicht maulen – wie aus einer kleinen Kundgebung die europaweite Bewegung "Pulse of Europe" wurde.  

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Mehrere Hundert Menschen haben vergangenen Sonntag vor dem Kölner Dom für Europa demonstriert. Foto: dpa/bamberger
Es ist Sonntagnachmittag. Eine Frau schiebt ihr Fahrrad über den Freiburger Augustinerplatz. Mitten auf dem Platz stehen Topfprimeln, mal hier eine, mal da eine. Die Frau bückt sich, greift nach einer weißen Primel und fragt, ob sie die hier mitnehmen könne. Und was denn los gewesen sei. So viele Leute. Seit fast elf Wochen füllt sich der Platz immer sonntags zwischen 14 und 15 Uhr mit Menschen, Mitte Januar waren es um die 70. Ein kleines Grüppchen, das im Schneegestöber beisammenstand und noch nicht so recht wusste, wie "Pulse of Europe" funktioniert. Wann applaudieren? Europa-Fähnchen schwenken – ja oder nein? Erst mal schauen. Vergangenen Sonntag waren es in Freiburg viel mehr Leute, laut den Veranstaltern rund 1600.

Viele von ihnen sind mittlerweile Profis in Sachen "Pulse of Europe", sie kommen – wenn sie es einrichten können – wöchentlich und werben gerne auch mal in der Nachbarschaft für die Veranstaltung – per Postkarte, natürlich blau und mit gelben Sternchen drauf, auf deren Rückseite sie "Ein Stündchen Positives!" notieren.

Was im November in Frankfurt am Main mit einer kleinen Kundgebung begann, ist jetzt eine europaweite Bewegung. In mehr als 60 Städten, 55 davon in Deutschland, gehen Menschen für den Erhalt der Europäischen Union auf die Straßen. Vergangenen Sonntag sollen es über 40 000 gewesen sein. Man singt, schwatzt, hält Plakate und Ballons in die Höhe oder an einem offenen Mikro Reden und verteilt – wie in Freiburg – Primeln in den Farben der französischen Flagge. Auch Straßburg und Offenburg machen bereits mit. Und Weil überlege auch, so Markus Meyer, der in Freiburg zusammen mit Moritz Pohle Pulse of Europe auf die Beine gestellt hat. Meyer ist Geschäftsführer der S.A.G. Solar-Gruppe und Pohle Anwalt.

Gegründet wurde die Bewegung von dem Frankfurter Anwaltspaar Sabine und Daniel Röder. Beide wollten sich, wie sie betonen, aus ihrer Schockstarre befreien, in die sie erst der Brexit und dann die Wahl Donald Trumps zum neuen US-Präsidenten versetzt hatte. In einer Mail, die sie noch im November an ihre Bekannten – zwei davon waren die Freiburger Meyer und Pohle – verschickten, riefen sie zu einer kleinen Testkundgebung auf. Man wolle, so schrieben sie, einen Beitrag leisten, dass es auch noch nach den Wahlen in den Niederlanden, in Frankreich und in Deutschland ein vereintes, demokratisches Europa gebe. Ihre Mail schlossen die Röders mit den Worten: "Wir sind nicht gegen etwas, sondern für etwas. Es ist nicht die Zeit der Proteste. Es ist Zeit für die Grundlagen unserer Wertegemeinschaft im positiven Sinne einzustehen."

Die Stimmung auf dem Augustinerplatz ist gut, hat was von Urlaub. Blauer Himmel, Sonnenbrillen und Kinder, die auf den Schultern ihrer Väter sitzen, Kopf liegt auf Kopf. Es geht heiter zu, obwohl auch immer wieder von Angst die Rede ist – Angst vor Nationalismus, Angst vor Ausgrenzung, Angst davor, dass Europa auseinanderbrechen könnte. Sibylle Huerta Krefft ist zum dritten Mal hier auf dem Platz. Sie ist mit ihrem Mann und Freunden gekommen, alle mittelalt und alle betonen, dass man auf die Straße gehe, weil man für Europa sei, auch wenn es darin mitunter etwas bürokratisch und bürgerfern zugehe. Sie macht mit. Und sieht, dass andere auch was tun. Auf dem Nachhauseweg gehe es ihr immer besser, sagt sie.

Die sonntäglichen Zusammenkünfte, egal, ob in Freiburg, Offenburg oder Krefeld, sind keine Demos, auf denen Parteipolitisches durchdiskutiert oder laut gegen etwas angemault wird. Die Demonstranten wollen der negativen Stimmung der europäischen Populisten etwas Positives entgegensetzen. So steht es auch in dem sehr vage formulierten Zehn-Punkte-Programm der Bewegung: "Wir alle müssen jetzt positive Energie aussenden, die den aktuellen Tendenzen entgegenwirkt. Der europäische Pulsschlag soll allenthalben wieder spürbar werden!", heißt es auf der Website von Pulse of Europe.

Annette Müller, die die sonntäglichen Kundgebungen vor dem Offenburger Rathaus mitorganisiert, glaubt, dass Pulse of Europe auch deshalb so großen Zulauf hat, weil es so einfach ist: "Statt mit seinen Gefühlen alleine zu Hause zu bleiben, geht man einfach sonntags für ein Stündchen raus auf den Platz." Außerdem gehe es um das große Ganze – um Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Frieden. Das berühre. Als man sich vergangenen Sonntag in Offenburg zum zweiten Mal traf, kamen nach Schätzungen von Müllers Team 700 Leute zusammen. Viele von außerhalb, aus Oberkirch, Neuried und den umliegenden Dörfern.

Auf der anderen Seite des Rheins, in Straßburg, hat die Bewegung deutlich mehr Mühe, die Menschen zu mobilisieren. Vergangenen Sonntag waren es auf der Place Kléber rund 150 Menschen. Getroffen hat man sich nach dem sonntäglichen Mittagessen, also nicht um 14 Uhr wie in deutschen Städten, sondern erst um 15 Uhr. Früher sei schwierig, sagt Emil Epp, der in Straßburg lebt und arbeitet und seit kurzem dort auch Pulse of Europe koordiniert. Trotzdem, so Epp, verspüre man auch hier in Sachen Politik die gleiche Niedergeschlagenheit wie auf der deutschen Seite.

Für den 9. April ist geplant, eine Menschenkette auf der Fußgängerbrücke Passerelle des Deux Rives nach Kehl zu bilden. Und am 30. April startet in Breisach der Run for Europe – auf die Ile de Rhin und zurück. Die Idee dazu hatte Lionel Macor, dessen Vita europäischer nicht sein könnte: Seine Eltern seien Italiener, seine Frau Deutsche, aufgewachsen in Paris, heute wohne er aber in Kirchzarten und habe ein Bauunternehmen in Mulhouse. Und ja, die bevorstehende Frankreich-Wahl bereite ihm Sorge.

"Pulse of Europe" wird aber auch kritisiert. Von EU-Romantikern ist die Rede, die sich sonntags lieber in Europa-Flaggen einwickeln oder Topfblümchen verteilen, statt konkrete Forderungen zu formulieren. Der bekannte Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer, der gerade ein Manifest "für die offene Gesellschaft" veröffentlicht hat, hält dagegen: Dass Menschen für ihre demokratische Gesellschaftsform eintreten, begrüße er sehr. Für Welzer ist Pulse of Europe ein Format der offenen Gesellschaft. Wie Parteien auch. "Die Bewegung funktioniert, weil viele Menschen realisieren, dass die Demokratie angegriffen wird. Und sie wollen sie verteidigen, indem sie sich öffentlich zeigen und vergemeinschaften." Dafür brauche es kein fertiges Programm. Sobald aber Menschen etwas bewegen, so Welzer weiter, stehen andere schon daneben, meckern und legitimieren damit ihr Nichtstun. "Sie glauben, schlau zu sein reicht. Reicht aber nicht."

Neu an der Bewegung ist nach Meinung Welzers ihre positive Ausrichtung. Es habe aber auch schon Vorläufer gegeben, die ebenfalls pro waren – die Anti-Pegida-Demos zum Beispiel, die ja auch "für Demokratie und im Übrigen viel größer als alle Pegida-Demos zusammen waren, nur dass das von der Öffentlichkeit nicht so richtig zur Kenntnis genommen wurde." Auch das Emotionale stört Welzer nicht. "Es gibt ja keine unemotionalen Bewegungen, sonst würde keiner mitmachen. Ohne Emotionen würde man auch nie auf die Idee kommen, für etwas einzutreten."

Was aus Pulse of Europe wird, wenn das Superwahljahr vorüber ist? Gründer Daniel Röder weiß es nicht. Er ist schwer zu erwischen, das Gespräch führt er abends kurz vor acht vom Fahrrad aus. "So instabil, wie die EU heute daherkommt, ist sie nicht überlebensfähig. Es braucht dringend Zukunftsentwürfe, damit nicht jede Wahl eine Schicksalswahl wird", sagt er. Und Pulse of Europe? Die Bewegung mache so lange weiter, bis die Politiker Europa endlich wieder auf ihre Agenda nehmen und weiterentwickeln. "Mit den Salondebatten muss endlich Schluss sein."

Was auffällt ist, dass Pulse of Europe jünger wird. Anfangs waren die Plätze noch grauhaariger. Heute stehen ausgebeulte Jeans neben Bundfaltenhosen und Karohemden neben Freizeitstrick mit Zopfmuster. Auch Schüler des Freiburger Kepler-Gymnasiums sind auf dem Augustiner. Ein Schüler hat blau gefärbtes Haar, in dem gelbe Sterne stecken, eine Schülerin hält ein Pappschild in der Hand: "Kepler sagt ,Ja’ zu Europa", steht drauf. Warum sie hier seien? Moritz Wagner, Klasse zehn, erzählt, dass vor zwei Wochen ein Rundbrief des Deutsch-Französischen-Gymnasiums aus Freiburg bei seiner Schülermitverwaltung eingegangen sei. Darin wurde dazu aufgerufen, sich für Europa starkzumachen. "Lange war Europa für uns normal", sagt Wagner. Wozu reden, hat ja alles geklappt. "Heute ist Europa auch für junge Menschen ein Thema." Man nimmt es aus dem Unterricht auch mit auf den Pausenhof.

Tom Taeymans vom Deutsch-Französischen Gymnasium, Klasse elf, hat den Brief mit aufgesetzt. An seiner Schule, weil bikulturell, komme man an dem Thema nicht vorbei, sagt er. Den Brief, der Sätze wie "Die EU ist nicht perfekt. Sie zu kritisieren ist legitim. Sie zu zerstören nicht" enthält, hat Taeymans bei einer Kundgebung Mitte Februar auch am offenen Mikro verlesen. "Kam gut an", sagt er. Parteipolitik sei für viele junge Menschen oft viel zu verwirrend, Pulse of Europe sei etwas zum Anfassen. "Wir können noch nicht wählen, aber wir können hierher kommen."

Egal ist Europa den Jungen jedenfalls nicht. Wie eine jüngst erschienene Studie der Bertelsmann-Stiftung belegt, bekennen sich 87 Prozent der deutschen Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren zu Europa. Die wichtigste europäische Errungenschaft ist für sie der Frieden, gefolgt von den Möglichkeiten, im Ausland zu studieren und zu arbeiten. Europa ist also noch nicht am Ende, auch wenn es mit seinen 60 Jahren mitunter etwas schwerfällig daher kommt.

Eben springt Satou Sabally in Freiburg auf die kleine Rednerbühne. Die Bundesligabasketballerin des USC Freiburgs wird im Sommer an ein US-College wechseln, ins Trump-Land. Im Moment spricht sie aber darüber, wie froh sie ist, hier in Europa leben zu können. Dann ruft sie auf den Platz hinunter: "Hey, wir können reisen, wie wir wollen, lasst uns einfach zusammen Urlaub machen."

Ressort: Deutschland

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