Proteste in Russland

Der Kreml schweigt, die russische Opposition twittert

Tausende Russen protestieren gegen die Korruption. Unter den Demonstranten sind viele Studenten, in Sibirien ging sogar ein Fünftklässler ans Mikro. Werden die Proteste zu einem Problem für Putin?  

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Der russische Oppositionelle Alexej Nawalny wird aus einem Gerichtssaal in Moskau gebracht. Foto: dpa
Der Kreml schweigt, die Opposition twittert: Über das Internet mobilisiert Alexej Nawalny Tausende Russen zu landesweiten Protesten. Allen voran marschieren Studenten und Schüler, die die Schlagstöcke der Polizei nicht fürchten. Wird das zu einem Problem für den Kreml?

Es gibt in Russland wieder landesweite Proteste. Es sind Proteste, die vor allem russische Jugendliche cool finden. So zum Beispiel am Sonntag. Gerade hatten Einsatzpolizisten die letzten Jugendlichen weggezerrt, die noch einmal auf den Sockel des Puschkin-Denkmals geklettert waren. Aber ein Teenager blieb dort stehen, das Mädchen kreuzte die Arme störrisch vor der Brust und machte ein so böses Gesicht, dass der junge Polizist, der sie ergreifen wollte, ratlos von ihr abließ. Aber auch sie wurde von seinen Kameraden abgeführt. Bei der Demonstration am Sonntag in Moskau nahmen die Ordnungshüter laut der Rechtsbeobachtungsgruppe OVD Info über 1000 Menschen fest. Postsowjetischer Rekord.

Nach verschiedenen Angaben hatten 7000 bis 25 000 Menschen an der nicht genehmigten Protestaktion im Stadtzentrum teilgenommen. Einsatzkommandos der Polizei begannen sofort gezielt, die aktivsten Demonstranten festzunehmen, der nationalliberale Oppositionspolitiker Alexej Nawalny, der zu der Demonstration aufgerufen hatte, landete schon nach zehn Minuten im Polizeibus. Einige Festnahmen eskalierten in regelrechte Schlägereien. Ein Polizist landete mit schweren Kopfverletzungen im Krankenhaus, die Zahl der verletzten Demonstranten ist nicht bekannt. 

Es war ein hitziger Sonntag, Augenzeugen reden übereinstimmend von einer viel grimmigeren Stimmung als bei den genehmigten Kundgebungen der vergangenen Jahre. Auch der gesamte Stab von Nawalnys "Stiftung zur Bekämpfung der Korruption", der die Demo in Moskau live auf Youtube übertrug, wurde festgenommen, die Computer abtransportiert. Enge Mitarbeiter Nawalnys sagten, die Behörden ermittelten wegen "Extremismus" gegen die Stiftung.

Mehr als 1500 Menschen wurden festgenommen

Die Staatsmacht will offenbar keine Kompromisse mit der Opposition eingehen. Und ihre Justiz wird in den nächsten Tagen alle Hände voll zu tun haben, die landesweit mehr als 1500 Festgenommenen mit Geldstrafen und Arresten zu belegen. Nawalny wurde am Montag zu Arrest und Geldbuße verurteilt; er hatte schon vor der Demo angekündigt, seine Stiftung werde jede Ordnungsstrafe vor den Europäischen Gerichtshof bringen. Und nach Ansicht von Bürgerrechtlern haben diese Beschwerden durchaus Chancen: "Nawalny hat die Kundgebung rechtzeitig angekündigt", sagt der Menschenrechtler Lew Ponomarjow der Badischen Zeitung, "die Behörden schlugen ihm erst im letzten Moment kaum geeignete alternative Orte vor."

"Impeachment, Impeachment"

Nawalny gab für die Kundgebung Parolen aus, die sich in erster Linie gegen Premier Alexander Medwedew richteten. Dessen mutmaßlich durch Korruption angehäuften Reichtum hatte Nawalny erst vor Kurzem in einem Film enthüllt. Aber sowohl Medwedew als auch Nawalny waren für einen Großteil der Demonstranten nur ein Anlass, um gegen Putins Regime überhaupt zu protestieren. Und statt Medwedews Rücktritt zu fordern, skandierten die Moskauer: "Impeachment, Impeachment." Die Aufforderung zur Amtsenthebung richtete sich gegen den Präsidenten. 

Anders als 2011/12 gehen die Menschen auch in der sogenannten Provinz auf die Straße. Laut Radio Echo Moskwy demonstrierten in 82 russischen Städten etwa 60 000 Menschen. Dabei übertrafen regionale Metropolen wie Perm (knapp eine Million Einwohner) mit   3000 bis 4000 Demonstranten deutlich die Protestdichte der Zwölf-Millionen-Stadt Moskau. "Früher demonstrierten in solchen Städten höchstens 20 Leute", sagt der Politologe Juri Korgonjuk. "Jetzt wurden sogar im dagestanischen Machatschkala 150 Leute festgenommen, wo es bisher Protest nur in Form von Schießereien gab." Russlands totgesagte Zivilgesellschaft wächst plötzlich wieder.

Im sibirischen Tomsk ging vor etwa 1000 Demonstranten ein Fünftklässler ans Mikrofon. "Es ist nicht wichtig, wer die Macht hat. Nawalny oder Putin", verkündete der Junge. "Wichtig ist, das politische System selbst zu ändern, das Schul- und Gesundheitssystem."  Nicht nur in Tomsk werden ganz unerwartet Schüler und Studenten laut. Auch Teilnehmer und Beobachter des Moskauer Protestes bemerkten erstaunt, dass etwa die Hälfte der Demonstranten jünger als 25 Jahre war. "Eine neue, politisierte und vor allem opponierende Jugend", sagt Korgonjuk.

Viele, die am Sonntag protestierten, haben im Leben nur einen politischen Führer gesehen: Wladimir Putin. Aber Putin und seine Ideenwelt scheinen bei ihnen nicht mehr wirklich in Mode zu sein. Der Moskauer PR-Experte Grigorij Naumow schließt nicht aus, dass die jugendlichen Protestler einen neuen Trend setzen könnten. "Selfies aus vergitterten Polizeibussen sind total cool, jeder der Festgenommenen gilt bei seinen Altersgenossen als Held. Dagegen sein, könnte Mode werden." 

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