Landtagswahl 2016
Winfried Kretschmann, der Kanzlerinnen-Versteher
Ministerpräsident Winfried Kretschmann will fünf Jahre weiter regieren – mit der SPD, notfalls auch mit einem anderen Partner. Das erfuhren das Publikum beim BZ-Dialog in der Lahrer Stadthalle.
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Da gegenwärtig alles für ihn so gut passt, ist es nicht verwunderlich, dass sich Kretschmann im Gespräch mit den Redakteuren Thomas Fricker und Stefan Hupka höchst aufgeräumt zeigt, ohne gleich abzuheben. Doch selbst das hätten ihm vermutlich die meisten der rund 500 Besucher in der Lahrer Stadthalle nicht übel genommen. Aber weil er auf dem Teppich bleibt mit allem, was er zur Landes- und zur Flüchtlingspolitik, über den sozialdemokratischen Koalitionspartner und über die von rechts dräuende Alternative für Deutschland sagt, folgt auf den freundlichen Begrüßungs- ein kräftiger Schlussapplaus.
Kretschmann ist zuversichtlich, dass die Grünen am Sonntag die Wahl gewinnen. Und er selbst natürlich auch: Er wolle fünf Jahre weiter regieren, sagt er. Den Zusatz "so weit es meine Gesundheit erlaubt" habe er sich aber abgewöhnt – weil dies jedes Mal Spekulationen ausgelöst habe, ob er nicht gesund sei. Aber sagen Politiker in solchen Fragen überhaupt die Wahrheit? Kretschmann wechselt gleich ins Grundsätzliche: "Lügen darf man nur in extremen Fällen" – beispielsweise in der Finanzkrise, um Schaden abzuwenden. Dann ergänzt er noch: "Man muss aber nicht alles sagen, was man denkt."
Doch manches eben schon: Kretschmann setzt zwar darauf, dass es trotz der in den Wahlprognosen stark schwächelnden SPD reichen wird, die grün-rote Koalition fortzusetzen – "alles andere will ich nicht". Doch weiß er nur zu gut, dass das Wahlergebnis anders ausfallen kann. Denn "am Wahltag entscheidet nicht mein Wille, sondern der der Wähler". Weshalb Grün-Rot nicht das letzte Wort ist: "Es kann die Situation eintreten, dann muss man etwas machen, was man nicht will, aber machen muss." Womit die Koalitionsfrage wieder offen ist. Das Publikum ist über so viel Realpolitik nicht schockiert, sondern eher begeistert.
Souverän weiß Kretschmann scheinbar Gegensätzliches zu verbinden. Nach mehr als einem halben Jahrhundert CDU-Herrschaft im Land habe Grün-Rot nicht alles auf den Kopf gestellt, sondern die Regierung habe die Traditionen des Landes geachtet – ein "großes Pfund, das es zu erhalten und zu stärken gilt". Gleichwohl sei das Land ökologischer, sozialer und demokratischer geworden, vor allem sei man ein Stück dem bildungspolitischen Ziel nähergekommen, den Bildungserfolg von der Herkunft abzukoppeln. Dass es dennoch gerade in der Schulpolitik Kritik gebe, hält Kretschmann eher für einen Normalzustand in diesem Ressort: "Den beliebten Kultusminister gibt es nicht."
Andreas Stoch ist aber neben Nils Schmid (der Finanzminister mache einen guten Job) und Reinhard Gall ("einer der besten Innenminister der Republik") einer der drei sozialdemokratischen Kabinettsmitglieder, die Kretschmann lobt – kein Wort über die aus seiner eigenen Partei. Dabei hatte er kurz zuvor noch gesagt: "Im Wahlkampf wirbt man nun einmal für die eigene Partei." Aber wenn der Wunschpartner Schützenhilfe braucht...
Parteigrenzen missachtet er auch in seiner Einigkeit mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Flüchtlingskrise: "Wir beide sehen die Krise hinter der Krise, nämlich die Krise der EU." Wie sie wehrt er sich gegen den Rückfall in nationales Denken, gegen die Gefahr eines Scheiterns des europäischen Projekts. Er sieht in ihr eine "erfahrene Krisenmanagerin", deren Politik der offenen Grenzen er unterstützt – was nicht ausschließt, dass er ihre Haltung vor drei Jahren gegenüber der zum EU-Beitritt bereiten Türkei kritisiert. Er sei kein besonderer "Kanzlerinnen-Versteher", beteuert er. Aber immerhin ein besserer als der CDU-Konkurrent Guido Wolf – "obwohl Merkel zu seiner Partei gehört". Es ist das einzige Mal an diesem Abend, dass Wolfs Name fällt.
Die Vorfälle an Silvester in Köln, als Migranten Frauen sexuell bedrängten und bestahlen, haben aus Kretschmanns Sicht die Stimmung im Land in der Flüchtlingsfrage verändert: "Was da passiert ist, das hat echte Ängste hervorgerufen." Der Staat müsse klare Kante zeigen – "wir müssen uns als wehrhafte Demokratie erweisen". Das gilt freilich auch dann, wenn es um den politischen Gegner von rechts geht. Kretschmann räumt ein, dass es ein Fehler war, sich TV-Diskussionen mit der Alternative für Deutschland (AfD) zu verweigern ("War aber auch nicht meine Idee"). Doch nach der ersten Sechserrunde hat er Zweifel, ob dieses Fernsehformat überhaupt dazu tauge, die programmatischen Aussagen der AfD-Vertreter so zu entlarven, dass es auch ihre Anhänger verstehen. Bei der ersten Diskussionsrunde sei ihm das jedenfalls nicht gelungen, gesteht Kretschmann offen ein.
ZUR PERSON: Winfried Kretschmann
Dass er als Student im maoistischen KBW aktiv war, daraus hat Winfried Kretschmann kein Geheimnis gemacht. Doch dieser "politische Irrtum" hätte den 1948 in Spaichingen geborenen Sohn einer aus Ostpreußen stammenden Flüchtlingsfamilie fast die Karriere als Gymnasiallehrer für Biologie, Chemie und Ethik gekostet. 1979 gründete er die Grünen in Baden-Württemberg mit, für die er 1980 bis 1984 und dann wieder von 1988 bis heute im Landtag saß und sitzt – lange Jahre auch als Fraktionschef. Dazwischen hat er im hessischen Umweltministerium gearbeitet, das Joschka Fischer geführt hatte. Seit 2011 ist er Ministerpräsident in einer Koalition von Grünen und SPD. Außerdem ist er Mitglied im Freiburger Diözesanrat und im Zentralkomitee der deutschen Katholiken.BZ-DIALOG: Info
Sechs Spitzenkandidaten der Landtagswahl am 13. März haben mit BZ-Redakteuren und BZ-Lesern in den vergangenen zwei Wochen diskutiert. Mit dem Auftritt des Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann (Grüne) ist die Reihe abgeschlossen.
Stattgefunden haben BZ-Dialoge mit Nils Schmid (SPD; Bericht in der BZ vom 24. Februar), Bernd Riexinger (Die Linke; BZ vom 25. Februar), Guido Wolf (CDU; BZ vom 27. Februar), Jörg Meuthen (AfD; BZ vom 1. März) und Hans-Ulrich Rülke (FDP; BZ vom 5. März).
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