Ohrenkunde
Der Hörsinn wird von den meisten viel zu wenig gepflegt
Der Hörsinn gilt als der wichtigste Sinn des Menschen – und wird von den meisten viel zu wenig gepflegt. Aber wie kommt der Ton ins Ohr? Hören wir auch im Schlaf? Gibt es das bewusste Hören?
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Der anfangs klare helle Ton wabert, leiser und leiser werdend, durch den Raum, viele Sekunden lang. Bis sich die ersten Finger heben und zuletzt alle in die Höhe gestreckt sind – zum Zeichen, dass auch bei den letzten Kindern von dem Ton jetzt nichts mehr ankommt. "Manche von euch können supergut hören", stellt die Sonderpädagogin vom Zentrum für hörgeschädigte Menschen in Stegen fest.
Manche wissen schon, dass er über Schallwellen übertragen wird. Und die, behauptet Carmen Hoffmann, kann man sogar sehen und fühlen, obwohl sie doch eigentlich unsichtbar sind. Konstantin mag es gar nicht glauben: "Schall kann man doch nicht anfassen!" Und ob man das kann! Plötzlich kribbelt es in seinen Händen, die einen grünen aufgeblasenen Luftballon umfassen. Jemand hat laut in seine Richtung gesprochen.
Die Töne haben die Luftballonhaut und darüber Konstantins Hände zum Vibrieren gebracht. Mit auf unterschiedliche Weise erzeugten Schallwellen bringen die Kinder Wasser zum Sprudeln, blasen eine Kerze aus, lassen den Sand auf einem Tamburin hüpfen. Und bauen mithilfe eines Trichters, einer Trommelmembran und weiterer Utensilien nach, was im Ohr vor sich geht, damit der Mensch hören kann.
Michael Deeg, Freiburger HNO-Arzt, Landesvorsitzender und Mitglied im Bundesvorstand seines Berufsverbandes, erklärt mit unüberhörbarer Begeisterung die "hoch beeindruckende Mechanik", die dem Hörsinn zugrunde liegt: Das Trommelfell, das am Ende des Gehörgangs vom Schall in Schwingungen versetzt wird.
Die winzigen Gehörknöchelchen, die mit ihrer Hebelwirkung die mechanischen Kräfte um das 20-fache verstärken und damit in den mit Flüssigkeit gefüllten Gängen des Innenohres – mit der Schnecke, die wirklich wie ein Schneckenhaus aussieht – Wellen erzeugen.
Der Wechsel des Aggregatzustandes von Luft zu Wasser bewirkt eine weitere Druckerhöhung. Davon werden die in der Schnecke befindlichen Haar- oder Hörzellen bewegt, die den mechanischen Reiz in elektrische Impulse umwandeln. In sich überkreuzenden Nervenbahnen werden diese aus beiden Ohren fein aufeinander abgestimmt ins Gehirn geleitet: Der Mensch hört Stereo.
Der Hörsinn ist von allen Sinnen der am frühesten entwickelte. Schon im Mutterleib ab der 20. Woche ist alles vollständig ausgebildet, was der Mensch sein ganzes Leben lang zum Hören braucht. Das Innenohr liegt sicher geborgen im Felsenbein, dem härtesten Knochen des Körpers. Ein Kind kennt die Stimmen seiner Eltern schon, bevor es geboren wird. Unruhige Ungeborene hören auf zu strampeln, wenn sie Mozart hören. Lautstarke Auseinandersetzungen zwischen den Eltern machen ihnen Stress.
Beim Menschen ist es die unabdingbare Voraussetzung für den Spracherwerb. Sprache gilt als Zugang zur Welt, zu anderen Menschen, zur Bildung. Sie entsteht aus einer Wechselwirkung zwischen dem Hören der mütterlichen Stimme und ihrer Laute und dem wiederholten Nachahmen durch das Kind. Etwa eines von tausend Neugeborenen in Deutschland kommt taub zur Welt – und hat es sehr schwer, sprechen zu lernen. Ihm hilft, dass Schallwellen sich auch tasten lassen und die Augen Mundbewegungen sehen können. Kindern, die nach einer Hirnhautentzündung ertauben, geht die bereits erworbene Sprache wieder verloren, sagt Michael Deeg. Dank des medizinischen Fortschritts der vergangenen zwei Jahrzehnte werden heute schon ganz kleine Kinder mit Hörhilfen ausgestattet.
Ein gesunder junger Mensch nimmt Töne in einem Frequenzbereich zwischen 20 (tiefste Töne) und 20 000 Hertz wahr. Damit werden die Schwingungen des Schalls pro Sekunde bezeichnet. Das entspricht einem Hörumfang von sieben Oktaven. Damit kann das Auge nicht mithalten: Der sichtbare Bereich der Lichtwellen, die es wahrnehmen kann, würde einer Oktave entsprechen. Mit dem Alter schrumpft der Frequenzumfang beim Hören – auf bis zu 15.000 Hertz im mittleren Lebensalter, auf 10.000 bei 60- bis 70-Jährigen. Wobei es nach den Erfahrungen des Fachmanns im Einzelfall große Unterschiede gibt. Er hat Hochbetagte kennen gelernt, die gut hören, und 50-Jährige, die schon als schwerhörig einzustufen waren.
Lärm gilt als Hauptverursacher früher Hörschäden. Berufsgenossenschaften listen sie als die häufigste Berufskrankheit. Dank vom Gesetzgeber verordneter verpflichtender Schallschutzmaßnahmen für alle Betriebe gehen sie seit 20 Jahren deutlich zurück. Michael Deeg spürt das daran, dass bei ihm fast keine Gutachten von lärmexponierten Menschen mehr angefordert werden.
"Für die Freizeit gilt dieser Schutz leider nicht", bedauert der HNO-Arzt. "In Discos werden Geräuschpegel von 100 Dezibel locker erreicht." Ungesund ist auch das Joggen mit Stöpsel im Ohr, wenn die Lautstärke so aufgedreht wird, dass sie alle Außengeräusche übertönt. Als kritisch gilt laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine Lautstärke von 85 Dezibel (mittlerer Straßenverkehr) über mehr als acht Stunden pro Tag oder von mehr als 100 Dezibel (entspricht dem Geräusch eines Presslufthammers) über mehr als 15 Minuten.
Man kann sich leicht vorstellen, was extremer Lärm mit dem Hörsinn anstellt: Wie ein Gewittersturm auf ein Weizenfeld entlädt er sich mit hoher mechanischer Energie auf die Sinneshärchen. Sie knicken um wie die Weizenhalme. Sind sie dem Lärm zu lange ausgesetzt, können sie irreparabel zerstört werden. Studien in verschiedenen Ländern zeigten laut WHO, dass in der Gruppe der 12- bis 35-Jährigen fast die Hälfte beim Musikhören oder beim Besuch von Clubs und Sportveranstaltungen einer gefährlichen Lautstärke ausgesetzt ist. Viele leiden anschließend unter störenden Ohrgeräuschen. Die Barmer GeK ist alarmiert: Im vergangenen Jahr, teilte sie kürzlich mit, sei in Baden-Württemberg 23 ihrer Versicherten zwischen 15 und 20 Jahren ein Hörgerät verordnet worden. 2013 seien es nur acht Jugendliche gewesen.
"Das Innenohr", erklärt Michael Deeg, "besitzt die meisten Nervenenden im menschlichen Körper und steht mit allen zentralen Funktionen in Verbindung." Schon geringer Lärm, wenn er als störend empfunden wird, kann das vegetative Nervensystem durcheinanderbringen: Das Dauergedudel aus Nachbars Garten lässt den Blutdruck steigen, süßliche Hintergrundmusik kann das psychische Wohlbefinden oder die Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigen. Welche Geräusche als angenehm oder störend empfunden werden, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. "Die Ohren sind immer online, auch nachts", sagt Deeg. Was sie wahrnehmen und wie es gedeutet wird, hat mit den Erfahrungen zu tun, die ein Mensch im Lauf seines Lebens gemacht hat. Hört er ein Martinshorn, erschrickt er. Das Knurren eines Raubtieres lässt in ihm alle Alarmglocken schrillen.
"Wenn Menschen Musik hören, hört immer die gesamte Biografie mit", erfährt auch Gebhard von Gültlingen. Der Geschäftsführer der international agierenden Musicosophia-Schule mit Sitz in St. Peter bezeichnet sich als "Berufshörer". In ihren Seminaren will die Schule Kindern und Erwachsenen die Kunst des bewussten Hörens klassischer Musik näherbringen. Allein das Gehör ist ihr Werkzeug, mit dessen Hilfe die Teilnehmenden das Zuhören und Musik verstehen lernen. Sie erkennen Melodien und Motive, die sie mit einfachen Linien zeichnen und in Gebärden ihrer Hände übersetzen. "Jede Musik erzählt eine Geschichte", sagt Gebhard von Gültlingen. Die Reaktionen, die sie im Hörer hervorruft, haben oft "nichts mit der Musik zu tun, sondern sind Spiegelungen seiner eigenen Lebensdramen".
Für die Menschen in seinen Seminaren kann das bewusste Hören zu einer Art Lebenshilfe werden. Hannelore Hobbiebrunken hat sich bei Musicosophia darin geschult. Sie arbeitet in einem Pflegeheim bei Frankfurt und macht erstaunliche Erfahrungen mit den altersverwirrten Menschen, die ihr anvertraut sind. Wenn sie ihnen Mozarts "Ave verum" vorspielt, huscht plötzlich ein Lächeln über abwesende Gesichter oder Tränen fließen, unruhige Geister werden still. Manche fangen an, Oberkörper und Hände harmonisch zur Musik zu bewegen. Ihre Ohren haben ihnen eine Brücke von der Musik in ihre Seele gebaut.
Tipps vom Ohrenarzt: Wer seinen Ohren Gutes tun will, hört Musik nicht über 85 Dezibel und beschränkt die Beschallungszeit auf maximal eine Stunde. Bei extrem lauten Veranstaltungen sind Ohrstöpsel sehr sinnvoll. Ohren wissen Ruhepausen zu schätzen, auch schon bei geringerer Lautstärke.
Initiative Hören: Der bundesweite Zusammenschluss umfasst Institutionen des Gesundheits-, Kultur- und Medienbereichs. Sie wollen das Bewusstsein für die pädagogische, gesundheitliche und kulturelle Bedeutung des Hörens fördern. Infos unter initiative-hoeren.de.
Auditorix: Das Hörbildungsangebot für Kinder der "Initiative hören" hält auf seiner Internetseite viele originelle Angebote und Anregungen rund ums Hören bereit. Pädagogen und Lehrkräfte finden Fortbildungsangebote und Unterrichtsmaterial. Mehr unter auditorix.de.
Musicosophia: Informationen zu der Schule unter musicosophia.com.
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