"Das Schicksal hat zugeschlagen, das ist alles"
BUCH IN DER DISKUSSION: Ein Journalist verlor bei den Pariser Anschlägen seine Frau – und schreibt dennoch gegen den Hass an.
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Stunden später, nachdem feststand, dass seine Frau unter den Getöteten war, postete er: "Freitag Abend habt ihr das Leben eines außerordentlichen Wesens geraubt, das der Liebe meines Lebens, der Mutter meines Sohnes. Aber meinen Hass bekommt ihr nicht." So lautet auch der Titel seines jetzt auf Deutsch erschienenen schmalen Buches, das in Frankreich viel gelesen wird und in mehr als 20 Sprachen übersetzt worden ist.
Was anfangs nur eine Facebook-Botschaft für enge Freunde und Bekannte war, wurde hunderttausendfach geteilt und brachte Leiris auch auf die Titelseiten der Weltpresse von Le Monde bis zur New York Times.
Manche wunderten sich über die Reaktion des Mannes, der wenige Stunden zuvor seine Frau verloren hatte. Aber Leiris folgte in den schlimmsten Momenten des Schmerzes, beim Besuch in der Gerichtsmedizin und bei der Flucht vor dem sogenannten Notfallpsychologen seiner Intuition, wie er im Buch erklärt. Er sah vor sich die aufgehetzten, wütenden jungen Männer mit den Maschinenpistolen, ihre zu Fratzen verzerrten Gesichter und wusste, dass sie ein endgültiges Urteil über Menschen gefällt hatten, die sie nicht kannten und nur wegen ihres westlichen Lifestyles hassten. "Für uns wird es lebenslänglich sein", resümiert er im Buch.
Um sich in keiner Weise mit dem Hass der "toten Seelen", wie er sie nennt, gemein zu machen, antwortete der Journalist mit menschlicher Größe. Er schreibt den Tätern, dass Hélène "jeden Tag bei uns sein wird und das wir uns in jenem Paradies der freien Seelen wieder begegnen werden, zu dem ihr niemals Zutritt haben werdet". Er setzt noch eins drauf, indem er klarstellt: "Das Schicksal hat zugeschlagen, das ist alles". Der Tod habe Melvils Mutter an jenem Abend erwartet, "und sie waren nur Botschafter".
Damit trifft er die Täter dort, wo sie verwundbar sind, er nimmt ihnen ihr scheinbares Heldentum. Sie sind für ihn nur gehirngewaschene Ausführungsorgane einer fanatischen pseudoreligiösen Sekte. Das machte Leiris über Nacht zu einer Person der Zeitgeschichte, zu einem Sprachrohr für viele, denen die Worte fehlten.
Das Buch ist ein Protokoll der Trauer, eine Liebeserklärung an Hélène, die "Brünette mit einer Haut wie Schnee, Augen, mit denen sie ein bisschen aussah wie eine aufgeschreckte Eule, und einem Lächeln, das die ganze Welt umfing", und ein Befreiungsschlag.
Leiris schildert die Tage zwischen dem Mord an seiner Frau und ihrer Beerdigung. Er beschreibt die Wut seines zweijährigen Sohnes, als er ihm erklärt, dass seine Mama nicht mehr nach Haus kommen wird. Er denkt über die irren, teilweise grausamen Floskeln nach, mit denen Politiker und Kommentatoren zu den Ereignissen vom 13. November 2015 Stellung beziehen. Es ist das einzige Mal, dass er zynisch wird: "All diese Toten dürfen nicht nutzlos sein", zitiert er. "Ach, es gibt also nützliche Tote?"
Antoine Leiris lässt seine Seele nicht vergiften, er lebt weiter, kümmert sich um den kleinen Sohn. Das Schicksal hat ihm seine Frau genommen, das ist sein Lebensdrama. Das ist dem Autor wichtiger, als über die Motive der Attentäter nachzusinnen, über die staatlichen Reaktionen, die Polizeiuntersuchungen, den Islamismus. Die Namen der Mörder und ihre Geschichte interessieren ihn nicht, auch nicht der Medienandrang. "Die Menschen waren mir alle sagenhaft wohlgesinnt, aber ich musste Grenzen ziehen. Ich musste Melvil Orientierung geben", schreibt er.
Von einem auf den anderen Tag ist Antoine Leiris in eine Parallelwelt gefallen, der Kummer bestimmt sein Leben und das seines Sohnes. Mit fast kühlen Miniaturen, aus der Distanz schreibt er diese Selbsterfahrungsprosa. "Ich hätte die Wörter gern geliebt, ohne sie fürchten zu müssen", heißt es. Nun geht es darum, selbst durchzukommen und seinen Sohn durchzubringen, das ist seine Lebensaufgabe.
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