BZ-Interview
3,6 Millionen Tonnen Essen landen täglich auf dem Müll
Tristram Stuart kämpft gegen die Wegwerfgesellschaft. Er begründete eine Kampagne , die 5000 Mahlzeiten nur aus weggeworfenen Lebensmitteln zubereitet. BZ-Redakteur Felix Lieschke traf ihn beim Umweltkonvent in Freiburg.
Felix Lieschke
Mo, 13. Mär 2017, 7:37 Uhr
Wirtschaft
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(Er zieht sein Telefon aus der Tasche und tippt eine Zahl ein.) Ich weiß, es sind 1,3 Milliarden Tonnen pro Jahr. Geteilt durch 365 Tage sind das nach meinen Berechnungen 3 561 643,84 Tonnen.
BZ: Werfen nur die reichen Industrienationen ihr Essen weg, oder ist das ein weltweites Problem?’Stuart: Das ist ein weltweites Problem, wobei sich Lebensmittelabfälle unterschiedlich charakterisieren lassen. In Entwicklungsländern verdirbt das meiste Essen dadurch, dass es keine ausreichende Infrastruktur gibt. Die Kühlketten sind lückenhaft, Silos auf Farmen sind in schlechtem Zustand. In reichen Ländern sind es andere Probleme, Infrastrukturprobleme haben wir schon lange ausgemerzt. Essen wird verschwendet, weil die Menschen sich dazu entschieden haben, es zu verschwenden. Sie kaufen zu viel, sie essen nicht alles, Supermärkte überfüllen ihre Regale oder weisen ein Drittel der landwirtschaftlichen Erzeugnisse ab, weil sie nicht perfekt aussehen, frischer Fisch wird auf See weggeworfen, weil es die Fangquote nicht erlaubt oder es keinen Markt dafür gibt. Im Großen und Ganzen sind es kulturelle und politische Rahmenbedingungen, die diese Verschwendung erlauben.
BZ: In Deutschland ist es verboten, sich Lebensmittel aus den Müllcontainern der Supermärkte zu nehmen. Wie ist das in England?
Stuart: Genauso. Ich bin kein Experte für deutsches Recht, aber ein Freund von mir, ein Professor für Recht an der Leicester Universität hat kürzlich eine Arbeit zu diesem Thema veröffentlicht. Er behauptet, dass Diebstahl, laut dem Gesetzestext, ein Element der Unehrlichkeit enthalten muss. Er argumentiert, dass es absolut legitim wäre, die Lebensmittel aus dem Müll der Supermärkte zu ziehen, da man davon ausgehen muss, dass der Markt kein Interesse mehr an dem Produkt hat – kein Diebstahl also. Vor Gericht wurde das zwar bisher noch nicht getestet, aber ich bin davon überzeugt, dass es Bestand haben wird.
BZ: Könnte die Politik über das Mindesthaltbarkeitsdatum die Verschwendung reduzieren?
Stuart: Die Supermärkte und Produzenten der Lebensmittel sind viel vorsichtiger als sie eigentlich müssten. Europäisches Recht ist nicht das Problem, sondern die Art und Weise, wie die Lebensmittelindustrie diese Gesetze missbraucht. Die Direktive der Europäischen Kommission zur Lebensmittelkennzeichnung besagt, dass auf verfallenden Lebensmitteln, die Schaden anrichten können, ein Datum angegeben sein muss, bis wann es zu verbrauchen ist. Dieses Datum ist das Einzige, das direkten Einfluss auf die Gesundheit hat. Das Mindesthaltbarkeitsdatum ist nur eine Garantie der Hersteller. Das hat überhaupt nichts damit zu tun, ob das Produkt danach schlecht wird oder nicht. Was wir herausgefunden haben ist, dass viele Hersteller ihre Produkte mit dem Datum kennzeichnen, bis wann es zu verbrauchen ist. Das beste Beispiel ist Joghurt – viele tragen ein Zu-verbrauchen-bis-Datum.
BZ: Gibt es dazu Zahlen?
Stuart: Ich kenne die Zahlen für Deutschland nicht, aber in England haben wir gerade eine Studie angefertigt, die zeigt, dass mittlerweile 90 Prozent der Joghurts dieses Datum tragen. Erstens verwenden die Hersteller die falsche Datumsart auf ihren Produkten; zweitens sind die Hersteller viel zu vorsichtig; und drittens tragen Produkte Haltbarkeitsdaten, die sie absolut nicht brauchen – Obst und Gemüse zum Beispiel. Die Industrie verwirrt die Menschen damit nur, und sie verlernen, sich auf ihre eigenen Sinne zu verlassen. Die Direktive besagt eigentlich auch, dass Konsumenten nicht verwirrt werden dürfen. In meinen Augen sind die verschiedenen Daten der Hersteller sehr verwirrend, und daher auch illegal.
BZ: Mittlere Hochrechnungen sagen eine Weltbevölkerung von neun Milliarden Menschen im Jahr 2050 voraus. Sind diese konventionell zu ernähren?
Stuart: Wir produzieren schon heute genug Essen für zwölf Milliarden Menschen. Wir müssen unsere Produktion nicht verdoppeln, um alle Menschen zu ernähren. Diese Ideologie ist gefährlich, denn der einzige Weg, mehr zu produzieren, würde die restlichen Wälder auch noch zerstören. Es macht keinen Sinn, mehr zu produzieren und ein Drittel davon wegzuwerfen. Der Westen hat schon jetzt das 1,5 bis zweifache der Kalorien, die man eigentlich benötigt, in seinen Regalen stehen. Die Idee, dass wir noch mehr brauchen, ist absurd. Wir haben schon jetzt massive Probleme mit Übergewicht und Gesundheitsproblemen.
BZ: Also braucht es auch in Zukunft keine genetisch manipulierten Lebensmittel?
Stuart: Da unterscheide ich mich etwas von manchem meiner Kollegen. Wir sollten die Möglichkeit genmanipulierten Essens nicht ausschlagen, nur weil sie momentan von Monopolisten kontrolliert wird, um höhere Gewinne zu erzielen. Natürlich muss das verhindert werden. Das heißt aber nicht, dass in der Zukunft daraus keine Produkte erwachsen könnten, die sich positiv auf die Umwelt auswirken.
BZ: An wen richtet sich Ihre Kampagne, an Privatpersonen oder Unternehmen?
Stuart: Wir mussten bei jedem Einzelnen anfangen und Druck aufbauen. Aber am Ende geht es darum, dass die Supermärkte sich gezwungen fühlen, ihre Politik zu verändern.
BZ: Sie haben angefangen, als Sie sehr jung waren, ihre Schweine mit Resten der Nachbarschaft zu füttern, nicht jeder hat gleich eine Farm zu Hause. Was kann ich tun?
Stuart: Nicht jeder sollte sich gleich Schweine anschaffen, ich würde es natürlich empfehlen. Wobei es heute illegal wäre, Küchenabfälle direkt an seine Schweine zu verfüttern. Auch das muss sich wieder ändern. Es geht darum Essen zu genießen, und nicht einfach nur zu kaufen, um es wegzuwerfen.
BZ: Woher bekommen Sie das Essen für die Kampagne "Feed the 5000"?
Stuart: Wir bekommen es von Landwirten, die ihre Produkte nicht bei den Supermärkten absetzen konnten, weil sie optisch nicht perfekt waren.
BZ: Wie viel hat sich verändert, seit Sie angefangen haben mit Ihrer Arbeit?
Stuart: (Lacht) Es hat sich so viel verändert, seit ich 2002 mit meinen Kampagnen angefangen haben. Damals haben sich die Medien überhaupt noch nicht für dieses Thema interessiert, die öffentliche Wahrnehmung war gleich null. Seitens der Regierungen gab es keine Regularien dafür, Lebensmittelverschwendung zu unterbinden. Heute sieht das ganz anders aus, es gibt ein Ziel der Vereinten Nationen Lebensmittelabfälle bis 2030 zu halbieren, in England haben wir herausgefunden, dass Lebensmittelabfälle in Privathaushalten um 21 Prozent gesunken sind. Und heute kann sich kein großes Unternehmen mehr leisten, in dem Bereich zu arbeiten, ohne zumindest einige Absätze in ihrer Philosophie zur Abfallvermeidung eingeführt zu haben.
Der Brite Tristram Stuart feierte am vergangenen Wochenende seinen 40. Geburtstag. Er ist Autor der Bücher "The Bloodless Revolution: Radical Vegetarians and the Discovery of India" (2006) und "Waste: Uncovering the Global Food Scandal" (2009). Außerdem ist er Gründer der Organisation Feedback. Stuart wurde für seine Arbeit mehrfach ausgezeichnet.
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