Zuhause sucht die Polizei zuerst
SACHBUCH:Die Soziologin Alice Goffman beschreibt in "On the Run" die Lebenswirklichkeit junger Schwarzer in den USA.
Wir benötigen Ihre Zustimmung um BotTalk anzuzeigen
Unter Umständen sammelt BotTalk personenbezogene Daten für eigene Zwecke und verarbeitet diese in einem Land mit nach EU-Standards nicht ausreichenden Datenschutzniveau.
Durch Klick auf "Akzeptieren" geben Sie Ihre Einwilligung für die Datenübermittlung, die Sie jederzeit über Cookie-Einstellungen widerrufen können.
AkzeptierenMehr Informationen
Sechs Jahre Feldforschung in einem Schwarzenviertel in Philadelphia bringen auch die US-amerikanische Soziologin Alice Goffman zu einer ganz anderen Beschreibung der Lebensrealität für die Mehrheit der Schwarzen, vor allem der jungen Männer: Sie sind "On the Run", auf der Flucht. Das ist nicht nur der Titel von Goffmans hochgelobtem Buch, sondern auch ihre Kernthese.
Am eindringlichsten führt Goffman ihre These aus Sicht der Betroffenen vor. Das liegt an der Methode ihrer Langzeitstudie – der teilnehmenden Beobachtung. Goffman ist in das von ihr untersuchte Stadtviertel gezogen, hat sich das Vertrauen der Bewohner erarbeitet, ist jahrelang mit einer der Gangs unterwegs gewesen und hat den zugehörigen Alltag hautnah miterlebt.
Den bestimmt vor allem die Furcht vor Verhaftung. Allein ihren Gewährsmann Mike begleitete Goffman zu 47 von 51 Gerichtsterminen, die er zwischen dem 22. und 27. Lebensjahr hatte. In dieser Zeit war er dreieinhalb Jahre im Gefängnis, verbrachte 87 Wochen auf Bewährung und lebte 35 Wochen unter der Drohung eines von zehn Haftbefehlen, die auf ihn ausgestellt wurden. Eine typische Karriere in dem Viertel von Philadelphia: Für 144 von 308 befragten Männern zwischen 18 und 30 waren Vollstreckungsbescheide, auf 119 Haftbefehle ausgestellt.
Solche Umstände begünstigen bei jungen Schwarzen zwei Handlungsmuster: Beziehungen, Orte und Tätigkeiten, die für andere zum normalen Alltag gehören, empfinden sie als Fallstricke: Die feste Wohnadresse ist der erste Ort, an dem die Polizei sucht. Freunde, Verwandte, Nachbarn sind potenzielle Informanten. Also meiden sie das alles. Sie gehen nicht zum Arzt, wenn sie verprügelt werden, nicht zu Beerdigung von Freunden, nehmen keine feste Arbeit an und wenden sich in Streitfällen nicht an die Polizei oder die Justiz.
Außerdem verhalten sie sich möglichst unvorhersehbar – sie äußern sich nur vage, sind unzuverlässig, halten Termine nicht ein. Sie lernen, dass sie nur als zwielichtige Figur dem Gefängnis entkommen, aber auch, dass dieses Leben nicht mit Familie, Arbeit und Freundschaft vereinbar ist. Die Flucht definiert ihr Leben.
So verbringen sie entscheidende Jahre, die andere für den Aufbau einer Existenz nutzen, im Gefängnis, meist wegen Bagatelldelikten. Sie leben ohne nennenswerte legale Perspektive im Ghetto und stehen einer überforderten Polizei gegenüber, der einzigen staatlichen Instanz, die auf die enormen sozialen Probleme leistungsfähiger, aber unbeschäftigter junger Männer angesetzt wird. Die Verwirklichung von Bürgerrechten sähe anders aus.
Die soziologische Methode der teilnehmenden Beobachtung ist nicht unumstritten: wenig Distanz zum Objekt der Untersuchung, kaum über das konkrete Erleben hinausgehende wissenschaftliche Erkenntnisse. Genau das ist Goffman vorgeworfen worden. Sie habe sich in der engen Beziehung zu ihren Studienobjekten verloren und sogar Sachverhalte falsch geschildert, weil sie Erzähltes ungeprüft übernommen habe.
Goffman war sich des Risikos bewusst. Auch wenn ihr Vater, der berühmte Soziologe Irving Goffman, kurz nach ihrer Geburt starb, kennt sie seine Interaktionsanalysen, mit denen sich gerade auch die teilnehmende Beobachtung präzise beschreiben lässt. Tatsächlich ist eines der spannendsten Kapitel ihres Buches das letzte, in dem sie das tut, was für redliche teilnehmende Beobachtung selbstverständlich ist: Sie macht sich selbst zum Untersuchungsgegenstand, gibt Rechenschaft darüber, wie sehr sie das Leben unter Flüchtlingen selbst zu einer Fremden auf dem Planeten der weißen Uni-Forscher gemacht hat.
Das alles macht "On The Run" zu einem eindringlichen Plädoyer dafür, dass letztlich nur Teilnahme zu Anteilnahme führt. Genau diese Teilnahme hat Goffman vergangenes Jahr in den USA auf die von der New York Times erstellte Liste der 100 wichtigsten Bücher gebracht.
Kommentare
Liebe Leserinnen und Leser,
leider können Artikel, die älter als sechs Monate sind, nicht mehr kommentiert werden.
Die Kommentarfunktion dieses Artikels ist geschlossen.
Viele Grüße von Ihrer BZ