Wenn Schneeflocken Hula Hoop tanzen

Das Theater Freiburg gibt dem von Graham Smith choreographierten Laienprojekt "Der Nussknacker" eine große Bühne.  

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-  | Foto: Maurice Korbel
- Foto: Maurice Korbel
Zahlen sind ja oft nüchtern. Aber das muss man sich erst einmal vorstellen. 110 Tanzenthusiasten der von Graham Smith initiierten und geleiteten "School of Life and Dance" im Alter von acht 8 bis 78 Jahren plus 75 Viertklässler der Vigelius-Grundschule plus die siebenköpfige Holst-Sinfonietta. Das sind selbst für das Große Haus des Theater Freiburg ziemlich viele Darsteller. Da kommt einiges an Begeisterung und Dynamik zusammen. Auf der Bühne werden Tanzschuhe, Schläppchen und bloße Füße zu sehen sein, Spitzentanz nicht. Alle werden gefordert, aber niemand über seine Möglichkeiten (Choreografie: Graham Smith).

Es ist ja leider selten geworden, dass die Tanzsparte am Theater Freiburg die Große Bühne eingeräumt bekommt, doch dieser "Nussknacker", vom Theater Freiburg als "Weihnachtsfest für die ganze Familie – von Freiburgern für Freiburger"– angekündigt, ist eben auch ein Geschenk für die Intendantin. So ein von Grund auf sympathisches Laienprojekt schafft Sympathien. Das Haus revanchiert sich mit der Technik der Großen Bühne und Ausstattungstheater von seiner bezauberndsten Seite.

Dabei beginnt die 100-minütige Vorstellung karg. Clara (Helena Radeke) betritt in weißem Kleidchen mit gelb grünen Strumpfhosen und weißen Spangenschuhen von außen die Bühne, setzt sich auf die Kante und schließt ein ganzes Bataillon an Plüschtieren in den Arm. Derweil nimmt die Holst-Sinfonietta (Leitung: Klaus Simon) Platz und stimmt das bekannte Motiv aus Tschaikowskys "Nussknacker" an (musikalische Leitung: Bo Wiget). Die restliche Familie Stahlbaum (Reiner Backes, Katja Stepputat) mitsamt Fritzi (Amelie Knözinger) stellt sich ein, der rote Vorhang erhebt sich, die Bescherung und das Fest unterm mit Lichtern und Geschenken geschmückten Baumskelett können beginnen. Paare tanzen miteinander, andere rocken ab. Man macht Selfies, die schwarzgekleidete Fraktion der Pubertierenden stellt Langeweile aus, ihre Anführerin Fritzi mischt die Musiker auf, und die Großmutter hält am längsten durch.

Mit dem Auftritt von Patenonkel Drosselmeyer (Balduin Bollin) ist etwas von der unheimlichen Seite der Romantik und der literarischen Vorlage von E.T.A. Hoffmanns "Nussknacker und Mäusekönig" zu spüren – auch wenn seine Automaten aus heutigen Kinderzimmern entlehnt sind und eine Hello-Kitty-Figur (Anna Rossmüller) zur Spieldosenballerina wird. Mit seiner Husarenuniform sieht der Nussknacker (Jakob Michelangeli, Simao Smith) hingegen aus, wie ein Nussknacker aussehen muss. Zusammen werden Klara und er nicht nur die Schlacht der Lebekuchenmänner und der Ratten überstehen, sondern auch auf Entdeckungsreise gehen. Durch den Wald, der den beiden Spalier steht, geht es in die Welt der Tiere, der Menschen, der Städte und der Natur.

Da räkeln sich Orientalinnen auf einem zum Teppich gespannten Netz, mit dem auch Klara ein Stück mitfliegen darf, eine Transe mit Reifrock und gelber Lockenpracht (Tobias Schwarz) bringt lauter kleine Pulcinelli auf die Welt. Ausstatterin Viva Schudt hat hier wirklich Großes geleistet, vom Kostüm des Rattenkönigs mit den Rattenköpfen als Epauletten bis hin zu den Schneeflocken, die statt Tutu weiße Winterpullis tragen, die in Shorts enden und mit Hula Hoop-Reifen zum Tellerrock werden. Smiths Choreografie geht sehr entspannt und humorvoll mit dem Erbe des klassischen Balletts um. So gleicht ein Trampolin beim Auftritt der Superhelden die Sprungkraft eines Profitänzers aus. Der Zuschauer sieht dabei weder das Trampolin noch die Matratze, wohl aber den schier schwerelosen Satz nach vorne, tollkühne Überschläge und ein augenzwinkerndes Lächeln.

Im Programmheft erinnert Anna Wagner, die diese Produktion in ihrer Freiburger Zeit noch mit angestoßen hat, dass das 1892 in Sankt Petersburg uraufgeführte Tanzstück "Der Nussknacker" seit langem schon zu den unterschiedlichsten Interpretationen reizt. Die Freiburger Version gibt sich denkbar menschenfreundlich, das Großunternehmen bietet Raum für unterschiedliches Können und jede Fasson. Der Spaß an der Bewegung und der gemeinsamen Sache zieht sich durch die lebendig choreografierten Formationen. Das hat vermutlich einiges an Geduld und die Fähigkeit, andere zu begeistern, gekostet, um dennoch ein harmonisches Ganzes zu erzeugen. "Der Nussknacker" trägt die Handschrift Graham Smiths, der das Projekt selbst zu einer Familiensache gemacht hat (Choreografische Assistenz: Maria Pires). Und diese Choreografie nimmt beides ernst, das Märchen und die Wirklichkeit, den Traum und das Wachen. Wenn am Ende wieder der Christbaum die Bühne bestimmt, wissen wir alle: Es ist Weihnachten.
– Weitere Vorstellungen: 20. Dezember, 6.,11.,16., 18. Januar. Tel. 0761/4968888

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