Wenn die Sirene für die Toten heult

An Israels Gedenktag für Terroropfer bleiben Israelis meist unter sich / Eine Initiative will das ändern.  

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Am Mittwoch um elf Uhr vormittags heulten in ganz Israel die Sirenen des Heimatschutzes. Jedes Kind in Israel weiß, was dann normalerweise zu tun ist: So schnell wie möglich zum nächsten Luftschutzraum laufen. So ist das, wenn der Raketenalarm losgeht. Am Mittwoch aber wussten alle: Die Sirene heult, um an die Toten zu erinnern.

Wie jedes Jahr wurde am Mittwoch in Israel der Jom Ha-Zikaron begangen, der Tag der Erinnerung an die gefallenen Soldaten und an die Opfer der Terroranschläge. Deren gab es viele in der kurzen Geschichte des fragilen Staates Israel. Es gibt kaum jemanden, der nicht wenigstens eine Person kannte, die in Kriegen oder Terror zu Tode kam. Darum kommt alles zum Stillstand, wenn am Tag der Erinnerung für zwei Minuten die Sirene tönt.

Niv Sarig denkt dann an Guy, seinen Bruder. Guy überlebte den Militärdienst nicht. Zwei Monate vor seiner Entlassung aus der Armee wurde er in der Stadt Tulkarem im Westjordanland von einem palästinensischen Scharfschützen erschossen. Das ist 26 Jahre her, aber immer noch genauso präsent. Obwohl der Tag der Erinnerung Menschen wie Guy gewidmet ist, hält Sarig wenig von den offiziellen Gedenkfeiern am Jom Ha Zikaron. "Zu viele blinde Flecken" gebe es dort, sagt der 45-Jährige. Er gedenkt stattdessen im eigenen Kreis, gemeinsam mit anderen Israelis, aber auch mit Palästinensern, die ihrerseits Angehörige im Konflikt verloren haben. "Elternzirkel-Familienforum" nennt sich die Initiative, die diese Zeremonien jährlich zum Jom Ha Zikaron in Israel, Palästina und online begeht.

Sarig bezeichnet sich als politisch links stehenden Israeli. Immer schon sei er für Koexistenz mit den Palästinensern eingetreten, allerdings ohne je Palästinenser zu treffen. Selbst zu israelischen Arabern hatte er lange keinen Kontakt. Nicht, weil er nicht wollte. Sondern weil, wie er sagt, es in Israel "ein erstaunliches Ausmaß an Segregation gibt". Das erleichtere ein Denken in Freund-Feind-Bildern. Und genau diese Sichtweise werde am Jom Ha-Zikaron gefördert, meint Sarig.

Die jährliche Zeremonie des Elternzirkel-Familienforums folgt der Idee, dass man erst gemeinsam trauern muss, um bereit zu sein, eine Zukunft ohne Blutvergießen zu bauen. Nach vielen Gesprächen mit Palästinensern verstehe er heute, was in dem Scharfschützen, der Guy getötet hat, vorgegangen sein könnte, erzählt Sarig: "Blinder Zorn auf die Israelis und das Gefühl, sein Volk von einer Bedrohung zu befreien. Das befreit ihn zwar nicht von seiner Verantwortung für die Tat", sagt Sarig. Es mache es für ihn als Hinterbliebenen aber leichter, das Unbegreifliche einzuordnen.

Zorn auf Israelis, dieses Gefühl kennt auch Layla Sheikh nur zu gut. Die 44-jährige Palästinenserin aus Battir nahe Betlehem hat ihr zweites Kind im Arm gehalten, als es mit dem Tod rang. Sechs Monate war Qusay alt, als das israelische Militär in Battir Tränengas einsetzte, das bei dem Baby Atemnot auslöste. Es war der Höhepunkt der Zweiten Intifada, die israelische Armee hatte überall Straßenblockaden errichtet. Erst vier Stunden später erlaubte die Armee den Eltern die Durchfahrt. Qusay starb auf der Intensivstation. "Ich war voll von Rachegefühlen und Wut", erinnert sich Sheikh. Dass auch sie nun gemeinsam mit israelischen Angehörigen trauert, verdankt sie zwei Menschen: Einer palästinensischen Freundin, die sie in Kontakt mit dem Elternzirkel brachte. Und einer israelischen Frau, die sich im Namen aller Israelis bei Layla für den Verlust entschuldigte.

Alle rund 600 Angehörigen, die Teil des Forums sind, sind Angriffen ausgesetzt, in besonderem Maße die palästinensischen Mitglieder. Sie hören den Vorwurf, dass sie durch ihre Beziehungen mit Israelis die israelische Besatzung "normalisieren". Auf israelischer Seite wird den jüdischen Mitgliedern vorgeworfen, naiv zu sein angesichts der Terrorgefahr.

Sarig hält dieser Kritik entgegen, dass Juden und Arabern gar nichts anderes übrig bleibe, als ein Leben in Koexistenz zu lernen. "Ob sie es wollen oder nicht, sie leben nun mal beide hier." Den Weg der Versöhnung hält Sarig nicht für Träumerei, sondern für "effektiver" als Blutvergießen.

Sowohl Sarig als auch Sheikh wissen, dass sie eine kleine Minderheit sind. "In der Geschichte hat aber jede große Veränderung klein begonnen", sagt Sheikh. "Wir warten seit 74 Jahren, dass unsere Regierungen eine Veränderung bringen, aber sie machen es nur schlimmer." Der Wandel müsse aus der Zivilgesellschaft kommen.
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