Literatur
Peer Martin glaubt in "Sommer unter schwarzen Flügeln" an die Kraft des Erzählens
Zwei Welten, zwei Arten zu stranden, ein Ort, irgendwo an der Ostsee. Calvin und Nuri verlieben sich. Nazi-Romeo und Flüchtlings-Julia? Auch, aber der Autor Peer Martin kennt beide Welten zu gut, um eine rosige Liebesgeschichte zu erzählen.
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Nuri ist aus Syrien und lebt im Flüchtlingsheim. Viele Jugendliche wohnen dort auf engstem Raum zusammen. Die Wut auf ihr untragbares Jetzt kennen sie, nachdem das Versprechen auf einen Arabischen Frühling nicht eingelöst wurde. In der Fremde gibt es nichts zu tun, die Zukunft ist ungewiss. Was bleibt, sind die Erzählungen vom Land, das das nicht mehr ist, und dem, das sie nicht will.
Zwei Welten, zwei Arten zu stranden, ein Ort, irgendwo an der Ostsee. Calvin und Nuri verlieben sich. Nazi-Romeo und Flüchtlings-Julia? Auch, aber der Autor Peer Martin kennt beide Welten zu gut, um eine rosige Liebesgeschichte zu erzählen. Die Calvins hat er als ehemaliger Sozialarbeiter auf Vorpommern und auf Rügen kennengelernt. Die Nuris hat ihm ein syrischer Freund nahe gebracht. Aus diesem Wissen heraus lässt er einen schönen Gedanken Gestalt annehmen: Was, wenn sich aus der Nazi-Sehnsucht nach einem arischen Arbeiter-Bauern-Idyll und der Flüchtlingssehnsucht nach einem freien, friedlichen Leben in einer verlorenen Heimat eine offenere Sehnsucht nach einer gemeinsamen, Halt gebenden Erzählung herausdestillieren ließe? Kann erzählerische Kraft aus aufeinanderknallenden Energien jugendlichen Rebellentums ein gemeinsames Feld erzeugen?
Calvin spürt diese Kraft, als er zufällig auf Nuri trifft. Sie erzählt von Syrien, einfach so. Calvin kann nicht weghören. Die Erzählung saugt ihn so auf, dass er das fremde Land richtiggehend spürt. Peer Martin schafft es, dass es uns geht wie Calvin. Wir riechen die Trauben von Dara und später das Blut in den Folterkellern von Damaskus. Und wir spüren auch Calvin, diese Gewohnheit, in klaren Fronten zu denken. Die Faszination für das Fremde verstört ihn derart, dass er mit der Clique auf einen Asylanten einprügeln muss, bis die Front wieder spürbar ist.
Aber die Kraft der Erzählung ist stärker. Calvin wird aussteigen, nur wohin? Und ist Nuri wirklich seine Julia? Ihre Motive sind komplex, so wie das Verhältnis zwischen Jungnazis, die sich in einen völkischen Widerstandskampf hineinfantasieren, und geflohenen Widerstandskämpfern, für die Krieg und Folterkeller Realität von Kindheit an waren. Können zwei unterschiedliche Arten von verlorener Jugend eine Rahmenerzählung finden, die ihnen ermöglicht, ohne Ratgeberkitsch und herbeigeprügelte Identitätssurrogate gemeinsam erwachsen zu werden?
Die einen sind, um etwas Besseres zu finden, vorm Terrorregime geflohen, die anderen wollen aus gleichem Grund eins errichten. Von Staat und Wirtschaft verlassen liegt die lokale Hoffnungs- und Common-Sense-Produktion in den Händen der Höcke-Pastörs-Wohlleben-Clans. Diese schwarzen Flügel rauschen nicht nur über Romeos und Julias. Möge Martins erzählerische Macht mit uns sein.