Drohnen-Einsatz in Ottenheim
Glück gehabt, kleines Reh
Jedes Jahr sterben in Deutschland etwa 100.000 Rehkitze durch Kreiselmäher. Das muss nicht sein. So sind auch in der Ortenau derzeit Kitzretter mit Drohnen im Einsatz. Unsere Autorin war dabei.
Susanne Vollrath
Di, 15. Jun 2021, 8:00 Uhr
Schwanau
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30 Kilometer nordöstlich, in Gengenbach, klingelt der Wecker Georg Schilli aus dem Schlaf. Der Jäger schlüpft aus dem Bett direkt in seine Jagdklamotten. Statt zur Waffe greift er zum Koffer mit der Wärmebilddrohne. Ein Blick aus dem Fenster stimmt ihn zuversichtlich: Die Nacht hat keinen Regen gebracht.
Für Sven Vollrath ist in Zell am Harmersbach die Nacht ebenfalls vorbei. Er trinkt eine Tasse Kaffee, steigt ins Auto und holt Georg Schilli ab. Er und Schilli gehören zur Kitzrettung Ortenau. Zusammen fahren sie nach Ottenheim. Es ist Mai. In den kommenden Wochen werden er und seine Mitstreiter von der Kitzrettung Ortenau Dutzende Male in aller Herrgottsfrühe aufbrechen, um möglichst viele Kitze vor dem Tod im Mähwerk zu bewahren. Sie machen das ehrenamtlich. Die meisten gehen nach den Einsätzen mit der Drohne ganz normal zur Arbeit.
Jedes Jahr sterben in Deutschland etwa 100 000 Rehkitze unter den Rädern und in den Messern tonnenschwerer Kreiselmäher. Manche schleppen sich auf abgetrennten Läufen schreiend vor Schmerz noch Stunden über die Wiesen, bevor der Tod sie erlöst. Wie viele Kitzretter-Teams in Deutschland unterwegs sind, wird nirgendwo erfasst. Sicher ist, dass sich immer mehr regionale Gruppen bilden. Nicht zuletzt, weil die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung die Anschaffung der teuren Drohnentechnik finanziell unterstützt.
Um 5.30 Uhr erreichen die Retter ihr Ziel in Ottenheim. Sie haben keine Zeit zu verlieren. Wenn erst die Sonne auf die Wiesen scheint, hilft auch die beste Wärmebildtechnik nichts. Dann werden die Kitze für die Retter unsichtbar. Noch gehen Schilli und Vollrath davon aus, dass die Suche nach spätestens zwei Stunden abgeschlossen ist. Mit 15 geladenen Drohnen-Akkus im Kofferraum sollte es kein Problem sein, die vier Felder abzusuchen, die heute auf dem Programm stehen. Noch wissen sie nicht, dass es nicht bei diesen vier Flächen bleiben wird.
Sieht man ein Kitz in der Natur, sollte man es keinesfalls anfassen und auch nicht lange in der Nähe bleiben. Die Geiß wird es nicht säugen, solange Menschen in der Nähe sind. Hört man ein Kitz längere Zeit fiepen oder klagen, ist der Griff zum Telefon angeraten, um den zuständigen Jäger zu informieren. Er weiß, was zu tun ist und kann alle notwendigen Schritte einleiten. Niemals sollte man ein Kitz streicheln oder gar mit nach Hause nehmen. Seit über 40 Jahren werden in Baden-Württemberg Kitze mit Ohrmarken markiert. Die Wildforschungsstelle Aulendorf will so Langzeitdaten zur Ökologie des Rehwilds gewinnen. Im Mai und Juni bringen die Geißen ihre Kitze zur Welt. Sie legen ihre Nachkommen zum Schutz vor Fressfeinden ins hohe Gras. Nähert sich Ungewöhnliches, drückt sich ein Kitz auf den Boden. Erst ab der dritten Lebenswoche erwacht im Kitz der Fluchtinstinkt.
Georg Schilli begrüßt Klaus Niehüser, Pächter des Jagdreviers, in dem sie ihre Suche beginnen. Niehüser hätte mit dem betroffenen Landwirt klären sollen, wo er mit dem Mähen anfangen will. Doch der Landwirt geht noch nicht ans Telefon. Also muss Niehüser entscheiden. Die Retter parken ihre Autos auf einem Feldweg östlich von Ottenheim. Schilli legt eine blaue Matte ins Gras. Darauf platziert Drohnenpilot Vollrath das Fluggerät. Das Überflugprogramm startet. Noch vor Sonnenaufgang erhebt sich der ein Kilogramm schwere Quadricopter in die Luft. Die Rotoren summen. Das Positionslicht blinkt.
Die Drohne steigt auf 50 Meter und zieht ihre Bahnen. Sie folgt einem Plan, den Sven Vollrath am Abend zuvor einprogrammiert hat. Für einen Hektar braucht sie weniger als drei Minuten. Ohne die Drohne würde es Stunden dauern, die Fläche abzusuchen. Die Retter warten am Rand des Feldes, beobachten die Drohne, schauen auf die Steuerung. Sie wärmen ihre Hände in den Taschen. Es ist kalt. Das Gras hat eine Oberflächentemperatur von zwei Grad. Ein Kitz würde im Wärmebild als etwa 25 Grad warme Stelle erscheinen.
Nach wenigen Sekunden der erste Wärmepunkt. Vollrath stellt auf manuelle Steuerung und splittet den Bildschirm. Jetzt sieht er neben dem Wärmebild auch das Livevideo. Er lässt die Drohne bis auf fünf Meter über dem Boden sinken. Das Bild zeigt plattgedrücktes Gras. Ein verlassenes Rehlager. Falscher Alarm.
Die Drohne steigt wieder, fliegt ein Stück zurück, um den Überflug nahtlos fortzusetzen. Inzwischen hat sich der Landwirt gemeldet. Niehüser gibt ihm Fläche für Fläche frei. Auch beim Mähen zählt jede Minute. Wenn der Landwirt zu lange wartet, legt womöglich doch noch eine Geiß ihr Kitz in eine bereits abgesuchte Wiese. Klaus Niehüser erzählt von einem Mahdtag, an dem alles schief ging. Damals suchten sie nach Kitzen. Aber der Landwirt begann mit dem Mähen nicht da, wo er hätte beginnen sollen. Die Bilanz dieses schwarzen Tages: 13 vermähte Kitze auf elf Flächen. Damals, so berichtet Niehüser, hätten Spaziergänger Kitze gefunden, die sich markdurchdringend schreiend auf nur zwei Beinen vorwärts kämpften. Für sie gab es keine Rettung mehr.
Martin Weiser, der Jagdaufseher im Nachbarrevier, hat Wind davon bekommen, dass sein Landwirt ebenfalls mähen will. Er bittet die Kitzretter, an diesem Morgen auch seine Flächen abzusuchen. Georg Schilli und Sven Vollrath nehmen sich die Zeit, kontrollieren vor dem Weiterfahren die Ausrüstung. Es sind noch elf Akkus voll. Die nächste Mission beginnt. Ein Reh springt ab. Ein Fuchs schaut in die Kamera. Kein Kitz. Martin Weiser gibt den Acker frei.
Während Weiser von früher erzählt, stecken Vollrath und Schilli am Controller die Köpfe zusammen. Ein Kitz! Die Helfer schnappen sich Korb und Sicherungsstangen und rennen so schnell sie ihre schweren Gummistiefel tragen zu der Stelle, über der die Drohne schwebt. Im Dinkelfeld liegt ein Böckchen. Die Helfer stülpen einen Korb über das Rehkind und sichern ihn mit Haselstecken. Klaus Niehüser rammt daneben eine lange Stange in den Ackerboden und bindet eine Fahne daran. Das Signal für den Bauern, dass er um diese Stelle herummähen muss.
Nur ein paar Meter weiter bleibt die Drohne über einem Roggenfeld erneut stehen. Diesmal kann Pilot Sven Vollrath nur einen Fleck im Wärmebild erkennen. Das Videobild zeigt nur undurchdringliches Grün. Sofort bahnen sich die Helfer den Weg durch den dichten Bewuchs. Vorsichtig setzen sie Schritt vor Schritt. Plötzlich deutet Klaus Niehüser vor sich auf den Boden. Dort, genau unter der Drohne, die jetzt etwa drei Meter über ihnen schwebt, liegt ein weiteres Bock-Kitz zwischen den Halmen.
Hier bringen der Korb und die Markierungsstange nichts. Im hohen Roggen würde der Bauer beides übersehen. Niehüser reißt dicke Büschel vom Roggen ab. Er nimmt das Kitz damit so sanft er nur kann zwischen seine starken Jägerhände und trägt es vorsichtig zu dem anderen Jungen auf den Dinkelacker.
Bis vor einigen Jahren haben Landwirte und Jäger mit Hunden und Menschenketten versucht, die Kitze aufzuspüren. Die Drohnentechnik hat die Suche revolutioniert. Dank ihr liegt die Aufklärungsquote bei nahezu 100 Prozent. Vorausgesetzt, es ist kalt genug und die Drohnen können fliegen. Dazu brauchen sie ruhiges Wetter – und volle Akkus.
Nur ein paar Kilometer weiter südlich, im Ackergras keine zehn Meter vom Radweg nach Nonnenweier, hat die Geiß auf der Wiese zwischen Altrhein und Oberdorfstraße ihr Kitz zur Welt gebracht. Wie alle frischgebackenen Rehmütter leckt sie es trocken und legt sich zu ihm, damit es zum ersten Mal in seinem Leben trinken kann. Das Kitz ist wehrlos. Ihm fehlt der Fluchtreflex. Selbst das Getöse eines Traktors würde es nicht aufschrecken.
Als die Retter kurz nach 10 Uhr – sie sind schon sechs Stunden auf den Beinen – vor der letzten Fläche stehen, die sie an diesem Tag absuchen sollen, geht der Strom in der letzten der 15 wieder aufladbaren Batterien langsam zur Neige. Auch die Steuerung zeigt nur noch einen Ladestand knapp über Null. Bald werden sie die Suche abbrechen müssen.
Auf dem Feld im Ottenheimer Süden, zwischen Altrhein und Oberdorfstraße, sprießt hüfthohes Ackergras. Als die Kitzretter dort ankommen, sehen sie ein Reh davonlaufen. Es rennt nicht weit weg, beobachtet die Menschen von einer Gehölzgruppe aus. Georg Schilli startet die Drohne. Wenige Minuten später stoppt er sie. Vielleicht zehn Meter vom Radweg nach Nonnenweier entfernt, steht sie still in der Luft. Zum letzten Mal an diesem Tag laufen die Helfer los, in der Hoffnung ein Kitz zu finden. Und da liegt es – so frisch, dass die Geiß noch nicht einmal die Nachgeburt aufgefressen hat.
Sven Vollrath fliegt die Mission mit dem letzten Tropfen Akkusaft zu Ende. Die Steuerung hat nicht einmal mehr die Kraft, die Drohne zu landen. Sie schwebt in zwei Metern Höhe und rührt sich nicht mehr von der Stelle. Schilli pflückt den Quadricopter aus der Luft. Die Sonne scheint.
Als die Helfer mit einem Bier auf den erfolgreichen Morgen anstoßen, klingelt Georg Schillis Handy: Ein Landwirt in Hofweier will das gute Wetter nutzen und mähen. "Ich muss los", sagt Schilli und ruft ein weiteres Team der Kitzrettung Ortenau zusammen.
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