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"Meine Identität macht, was sie will"

Zwischen Realität und Virtualität: John von Düffels Schülerroman "Klassenbuch" erzählt von den Jugendlichen von morgen.  

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„Das Problem ist das gefakte Fenster“: Das Smartphone als Dauerdroge Foto: Griessel (Adobe Stock)
Eigentlich eine nette Idee: Ein Schriftsteller besucht eine Schulklasse; unter seiner Anleitung sollen die Schüler in einem gemeinsamen Text von ihren Hoffnungen, Träumen und Ängsten erzählen. Als John von Düffel den Schülern sein Schreibprojekt vorstellte, erlebte er aber eine herbe Enttäuschung. Schon die Idee eines gemeinsamen Textes stieß in der Klasse auf Unverständnis. Wessen Geschichte sie denn da erzählen sollten, wurde der 51-jährige Autor und Dramaturg gefragt. Jeder habe doch seine eigene.

Gibt es im Zeitalter von iPhone und Facebook überhaupt noch so etwas wie eine "gemeinsame Schulzeit"? Und kann es sein, dass Schüler heute zwar ständig am Chatten und Simsen sind – aber zugleich einsamer und isolierter als je eine Schülergeneration zuvor? Über diese Fragen hat John von Düffel nun einen Roman geschrieben. In seinem Mittelpunkt stehen neun Schülerinnen und Schüler der Abschlussklasse eines Gymnasiums, vielleicht fünf oder zehn Jahre in der Zukunft. Sie alle haben Deutsch bei Frau Höppner, sie alle hören eine Grille irgendwo im Klassenzimmer zirpen – was ihre Lehrerin auf die Idee bringt, die Schüler über La Fontaines berühmte Fabel von der fleißigen Ameise und der sorglosen Grille schreiben zu lassen.

Düffels pubertierende Ich-Erzähler verbindet nur wenig, jeder ist Protagonist seiner eigenen kleinen Tragikomödie: Erik zum Beispiel leidet darunter, dass er zwar Frau Höppners Dekolleté schön, aber Pornos noch ungeil findet. Dagegen hat seine magersüchtige Mitschülerin Emily schon eine folgenreiche Affäre mit einem Lehrer. Stanko, in Deutschland geboren, aber mit bosnischen Wurzeln, suchen die traumatischen Kriegserlebnisse seiner Eltern heim, während Lenny die langweilige Realität des Unterrichts mit der Virtualität eines Computergames verwechselt: "Das Problem ist das gefakte Fenster. So sieht kein realistisches Draußen aus. Der Wind in den Bäumen, die Bäume im Wind, der Krähenflug und Wolkenzug, alles geloopt, der ganze verdammte Vormittag und irgendwie auch ich, ein Loop meiner selbst (…). Mein Energiebalken sackt in den roten Bereich. Die ganze Life-Line krümmt sich gegen den Uhrzeigersinn und wickelt Wiederholungsschleifen ohne Handlungsvektor, ohne Herzkomponente, kein Wut- oder Hassbooster, den ich hochziehen könnte, um auf das nächste Level zu kommen."

Schein und Sein sind in dieser Schulklasse von morgen kaum noch zu unterscheiden. Überwachungskameras und Drohnen gehören längst zum Alltag. Die übergewichtige Vanessa präsentiert sich in ihrem Online-Echtzeit-Tagebuch unter dem Namen "Nina" als sportsüchtiges Hottie. Nur ihre Mitschüler wissen, dass die Bilder der Drohne, die die Schülerin begleitet, schon im Entstehen "gephoto- shoppt" werden. Ihren Followern verrät "Nina", wie sich dank "Secret-Parents-App" das Mittagessen mit den Eltern aufpeppen lässt, wo sonst "Echtzeitlangeweile und (…) Überlängegefühl" herrschen: "Seit Mama und Papa in meinem u&i-Doku-Diary nur noch als Leerstellen vorkommen, sind selbst die Mahlzeiten nicht mehr fad, sondern irgendwie geheimnisvoll, eine Mischung von normal und Mystery, weil manches wie von Geisterhand verschwindet und man sich die ganze Zeit fragt, wo das Essen auf einmal hin ist (…)"

Nicht nur Vanessa wird im Verlauf des Romans das Opfer von Mobbing und Gerüchten. Abgeklärt durchschauen die Schüler zwar das "System" und die Tricks der "Langeweile-Industrie", aber dem letztlich selbstproduzierten sozialen Dauerstress entkommt niemand – schon weil in peinlichen Momenten unter Garantie alle anderen gnadenlos ihr Smartphone zücken. Wer Pech hat wie Emily, über den kursieren gefakte Sex-Videos, wer noch mehr Pech hat wie Henk, der muss als Absender dieser Videos herhalten. "Meine Identität macht, was sie will", entschuldigt sich Henk verzweifelt, nachdem sein Account gehackt wurde.

Auch wenn John von Düffel manchmal etwas arg dick aufträgt: Fragen nach Identität und Authentizität, Realität und Virtualität, Körper und Geschlecht werden in "Klassenbuch" auf eindrucksvolle Weise thematisiert. Auch die je eigenen Stimmen der neun pubertierenden Protagonisten sind überzeugend gestaltet. Deren irritierendes Nebeneinander fügt sich aber erst im zweiten Teil zu einem Roman. Als die Lehrerin Frau Höppner plötzlich verschwindet, zeigt sich: Die Schüler stehen wirklich miteinander in Verbindung, die Vernetzung ist nicht nur ein soziales Phantasma. Über hundert Jahre nach Hesses "Unterm Rad" und Musils "Törleß" feiert mit von Düffels "Klassenbuch" das Genre des Schülerromans somit eine glänzende Wiederauferstehung.

John von Düffel: Klassenbuch. Roman. Köln, DuMont Buchverlag, Köln 2017. 318 Seiten, 22 Euro.

Ressort: Literatur & Vorträge

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