Kino

"Lion", die Verfilmung einer Spurensuche, kommt ins Kino

Garth Davis’ für sechs Oscars nominierte Verfilmung der Autobiografie "Lion" ist bildmächtig und berührend. Ein adoptierter junger Mann sucht seine Wurzeln in Indien.  

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Eine hinreißende Leistung: Laiendarsteller Sunny Pawar als fünfjähriger Saroo  | Foto: Universum
Eine hinreißende Leistung: Laiendarsteller Sunny Pawar als fünfjähriger Saroo Foto: Universum
Kurz vor der Oscar-Verleihung schießen die Spekulationen ja immer ins Kraut, in diesem Jahr aber noch ein bisschen mehr als sonst. 2016 hieß der Aufreger "Oscars so White", 2017 heißt er Donald Trump. Werden die Preisträger politische Statements abgeben? Und die Jury: Wird sie Zeichen setzen, dass sie die Welt im Blick hat und das US-Kino die amerikanischen Realitäten? Bekommt "The Salesman" den Auslandsoscar? Und womöglich nicht nur deshalb, weil er es genauso verdient hat wie der deutsche Beitrag "Toni Erdmann", sondern weil sein iranischer Regisseur aus Protest gegen Trumps mittlerweile aufgehobenes Einreiseverbot für Bürger aus mehrheitlich muslimischen Ländern der Preisverleihung fernbleibt?

Vor allem: Was wird zum Film, was zur Regieleistung des Jahres gekürt? Ein politisches Drama wie "Moonlight" über einen schwulen schwarzen Drogenhändler oder "Hell or High Water" über kleinkriminelle Bürger und großkriminelle Banken? Ein Stoff aus der Geschichte ("Jackie") oder einer aus der Zukunft ("Arrival")? Oder doch lieber was fürs Herz, Kino als Trostpflaster in schweren Zeiten, Märchen und Melodram wie das gleich 14 Mal nominierte Musical "La La Land"?

Oder eben "Lion". Aber ganz abgesehen davon, dass gutes Kino nicht zwangsläufig schwere Kost sein muss und die Oscars ("Lion" geht mit sechs Nominierungen ins Rennen) cineastisch herausragende Leistungen prämieren sollen: Das Spielfilmdebüt des Australiers Garth Davis ist weder ein rührseliger Wohlfühlfilm noch ein von der Traumfabrik erdachtes Märchen. Sondern die Verfilmung einer wahren Geschichte, des autobiografischen Bestsellers "Lion – Der lange Weg nach Hause" des gebürtigen Inders Saroo Brierley aus dem Jahr 2014. Einer Geschichte freilich, wie sie Hollywood unglaublicher nicht hätte erfinden können.
"Lion – Der lange Weg nach Hause" (Regie: Garth Davis) kommt morgen in die Kinos. (Ab 12 Jahren)

Ein Fünfjähriger verliert eines Nachts auf einem indischen Bahnhof den großen Bruder, steigt schlaftrunken in einen Zug und findet sich in Kalkutta wieder, 1600 Kilometer weit weg. Er kämpft sich wochenlang alleine durch die Stadt, kommt dann in ein Kinderheim und bald darauf zu Adoptiveltern nach Australien – und spürt ein Vierteljahrhundert später seine leibliche Familie auf, obwohl er weder seinen genauen Namen noch den seines Heimatortes kennt. Davis, der bisher vor allem mit Werbefilmen und Serien ("Top of the Lake") von sich reden machte, widmet die gesamte erste Hälfte seines Filmes dem Kind Saroo, das Sunny Pawar einfach unwiderstehlich verkörpert. Und das nicht etwa nur wegen Kindchenschema und Kulleraugen: Sunny, der noch nie vor einer Kamera stand und in einer Schule für benachteiligte Kinder in Mumbai gecastet wurde, gibt den Jungen mit verblüffender Ernsthaftigkeit und Würde.

Was soll das Kino erzählen, wenn nicht solche Geschichten?

Saroo will die Mutter (Priyanka Bose) unterstützen, die ohne Mann vier Kinder durchbringen muss, und den Bruder Guddu (Abhisek Bharate verleiht seiner Figur ein schönes inneres Leuchten) beeindrucken. In jener Nacht, die sein Leben verändert für immer, will er unbedingt mit Guddu mit, ihm bei irgendeinem Job helfen, irgendwas organisieren, was der Familie Essen auf den Tisch bringen kann. Aber dann schläft er ein, und als er aufwacht, ist der Bahnhof menschenleer.

Saroos Zugfahrt durch halb Indien lebt vom suggestiven Soundtrack, für den sich der deutsche Musiker Volker Bertelmann alias Hauschka Oscar-Hoffnungen machen darf: Das Kind ist allein, sein verzweifelter Ruf nach dem Bruder oft nur als stummer Schrei zu sehen, der Ton aber pflanzt seine Angst und Einsamkeit tief unter die Haut. In Kalkutta dann ist es zuerst die Kamera, deren Leistung ins Auge springt: Greig Fraser ("Zero Dark Thirty", "Foxcatcher") bleibt ganz auf Augenhöhe des kleinen Kerlchens, das da schier verschluckt wird vom Moloch der Großstadt. Saroo lässt sich aber nicht fressen.

Was dem Roman gelang, dem Drehbuch nicht: das Glück deutlich machen

Wenn neben ihm obdachlose Kinder geraubt werden, ob von Organ- oder Menschenhändlern oder Päderasten, bleibt offen, wenn eine freundliche Dame ihn einem noch netteren Herrn zuführt: Immer kann er rechtzeitig Reißaus nehmen. Dass ein so kleines Kind sich mit so viel Gelassenheit, Instinkt und Souveränität alleine in einer Millionenstadt durchschlägt, mag man gar nicht glauben – hier hätte das Drehbuch (Luke Davies) Mittel finden müssen, um zu zeigen, was Brierley im Roman immer wieder betont: was für ungeheures Glück er gehabt habe.

Richtig störend wird das, als Mum und Dad Brierley (Nicole Kidman, David Wenham) noch ein zweites Kind aus Indien adoptieren. Dass dieser Mantosh, der so anders ist als der süße Saroo, von klein auf üble Missbrauchserfahrungen gemacht hat, wissen nur Leser des Buches, im Kino sieht man ein wildes, aggressives Kind – und später dann, als die Jungs erwachsen sind, einen gescheiterten jungen Mann, der obendrein nicht so hübsch ist wie der von Dev Patel verkörperte Saroo.

Bildmächtig und berührend

Wofür der wie immer glaubwürdig und charmant aufspielende Dev Patel ("Slumdog Millionär", "Marigold Hotel") natürlich ebensowenig kann wie für das Drehbuch. Saroos wie besessene Suche nach seiner Herkunft wird nicht durch pubertäre Identitätsfragen vorbereitet, sondern kommt unvermittelt und stürzt ihn samt Freundin (Rooney Mara) in eine schwere Krise. Als er aber nach langen Jahren nimmermüder Recherche über Google Earth tatsächlich Heimatort und Familie gefunden hat, findet auch der zweite Teil des Films seine großen magischen Momente.

Wenn schließlich im Abspann der reale Saroo Brierley Mutter und Adoptivmutter gleichzeitig umarmt, erinnert man sich wieder daran, dass die Story dieses so bildmächtigen und berührenden Films ja tatsächlich eine reale ist. Und was sollte das Kino erzählen, wenn nicht solche Geschichten?

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