Leute in der Stadt
Lev Peskin hat als junger Mensch die Blockade von Leningrad erlebt
Wie lässt sich das erzählen, was Lev Peskin (90) hinter sich hat? Seit zehn Jahren lebt er mit seiner Frau in der Seniorenwohnanlage der Arbeiterwohlfahrt in Landwasser, ihr Alltag ist ruhig. Doch als er 13 Jahre alt war, hat Lev Peskin die Leningrader Blockade erlebt.
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FREIBURG-LANDWASSER. Wie lässt sich das erzählen, was Lev Peskin (90) hinter sich hat? Seit zehn Jahren lebt er mit seiner Frau in der Seniorenwohnanlage der Arbeiterwohlfahrt in Landwasser, ihr Alltag ist ruhig. Doch als er 13 Jahre alt war, hat Lev Peskin die Leningrader Blockade erlebt. Damals war er jünger als seine beiden 14 und 18 Jahre alten Enkel heute sind. Bisher hat er nie mit ihnen darüber geredet: "Das Leben jetzt ist so anders als unsere Erfahrungen von damals", sagt er.
Bis dahin hatte Lev Peskin ein normales Leben in seiner Heimatstadt Leningrad geführt: Sein Vater arbeitete in der Baubranche, die Mutter in einer Fabrik, es gab einen älteren Bruder, die Verhältnisse waren einfach. Vom gewohnten Alltag war schnell nichts mehr übrig. Die Menschen kauften Lebensmittel ein und legten Vorräte an. Alle hatten Angst. Niemand wusste, was als Nächstes passieren würde. Dann kamen die ersten Bomben. Die notdürftig eingerichteten Bunker in den Kellern der Häuser boten keinen wirklichen Schutz.
Lev Peskin war damals 13 Jahre alt, damit galt er bereits als fast erwachsen. Er musste in Leningrad bleiben. Nur kleinere Kinder wurden in den Ural oder nach Asien evakuiert. Die Lage spitzte sich schnell zu, nicht nur wegen der Bombardierungen, sondern vor allem wegen des Hungers: Als die Menschen ihre Reserven aufgebracht hatten, verhinderte die Blockade der deutschen Truppen, dass Lebensmittel nachgeliefert werden konnten. Bis Ende Januar 1944 starben deshalb mindestens 1,1 Millionen Menschen.
Lev Peskin sah schon ab dem Spätsommer 1941, wie manche Menschen auf der Straße vor Schwäche bewusstlos wurden. Er ging nicht mehr alleine nach draußen, weil er von zwei kleinen Mädchen gehört hatte, die verschwunden waren – nur ihre Kleidung wurde gefunden. Es hieß, dass sie getötet und von anderen gegessen worden seien.
Bei Lev Peskin zu Hause fielen die Heizung und die Wasserleitungen aus, die Menschen tranken Abwasser, überall waren Ratten. Der Hunger bestimmte alles. Nur wohlhabendere Familien hatten es etwas leichter, sie konnten Schmuck und Geld gegen die begehrten wenigen Lebensmittel tauschen. Die Peskins aber waren arm. Lev Peskins Onkel hat sie gerettet: Er war Soldat und schaffte es, Evakuierungspapiere für seine Verwandten zu beschaffen. So kam es, dass alle zusammen am 16. Februar 1942 nach Zentralasien ausreisen konnten. Die Reise dauerte zwei Monate lang und war gefährlich: Die Strecke führte über gefrorene Gewässer, das Eis hatte Löcher. "Es war wie ein Albtraum", sagt Lev Peskin.
Und dann? Es ging zwar aufwärts, doch das Leben blieb hart: Die Peskins wohnten in einem zentralasiatischen Dorf, später im Uralgebirge. Lev Peskin arbeitete erst als Hirte, dann in einer Fabrik für Panzer – zwölf Stunden am Tag, ohne Wochenenden. Er war ein Jugendlicher und hatte noch jahrelang am ganzen Körper Furunkel, die durch den Hunger während der Blockade entstanden waren.
Mit 18 Jahren kehrte Lev Peskin nach dem Krieg nach Leningrad zurück. Dort lebte er, bis er 2008 mit seiner Frau dem Sohn nach Freiburg folgte. Lev Peskin hatte sich in Leningrad neben seiner Arbeit in einer Fabrik durch die Abendschule und ein Studium zum Ingenieur hochgearbeitet. 1963 hatte er geheiratet, 1965 wurde der Sohn geboren. In Freiburg fühlen sich Lev Peskin und seine Frau Sonja wohl, auch wenn sie wegen ihres Alters nicht mehr richtig in die deutsche Sprache einstiegen – Lev Peskin war 80, als er hier ankam. Eine Sache allerdings irritiert sie: Dass im Gedenkbrunnen am Platz der Alten Synagoge Hunde und Kinder herumplanschen. Deshalb nahmen die beiden im vergangenen Jahr an einigen Mahnwachen teil.
Die Hauptsache ist für Lev und Sonja Peskin, ihren Sohn in der Nähe zu haben und das Leben der beiden Enkel mitzuverfolgen. Umso mehr, weil sie zum Glück ganz anders leben, als Lev Peskin das als Jugendlicher konnte: Beide sind sehr aktiv, machen viel Musik und Sport.