Zischup-Interview mit Zeitzeugin Agathe Gehringer
"Ich wundere mich, dass ich nie Albträume hatte"
Agathe Gehringer berichtet über ihre Kindheit in Polen und ihre Ausweisung nach dem Krieg. Mit ihr sprach Julia Katharina Motz, ihre Enkelin und Schülerin der Klasse 9a des Scheffel-Gymnasiums in Lahr.
Julia Motz, Klasse 9a, Scheffel-Gymnasium (Lahr)
Do, 13. Jun 2019, 0:00 Uhr
Schülertexte
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Zischup: Du hast vor 25 Jahren eine Reise in deine alte Heimat unternommen. Konntest du dort Kontakt zu ihnen aufnehmen?
Gehringer: Ich hätte es mir sehr gewünscht, sie noch einmal sehen zu dürfen, aber sie waren zu diesem Zeitpunkt leider bereits verstorben.
Zischup: Gibt es ein Erlebnis, an das du dich bis heute erinnern kannst?
Gehringer: Während des Zweiten Weltkrieges haben meine Mutter, meine Brüder und ich meine Großmutter auf dem Land besucht. Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als auf einmal die Haustür aufgerissen wurde und ein junger Russe in das Haus kam. Er hat uns bedroht und verlangte, dass wir uns in eine Holztruhe legen sollten. Wir haben geschrien und ich habe am ganzen Körper gezittert. Der Russe hat gesagt, dass die Deutschen seine Eltern umgebracht haben und wir nicht das Recht hätten zu leben. In dem Moment kam ein älterer Soldat herein und gab ihm eine Ohrfeige. Er gab uns zu verstehen, dass wir uns beruhigen konnten und uns nichts passieren würde. Im Nachhinein bin ich mir sicher, dass der junge Russe uns alle in der Truhe erschossen hätte, wenn der Ältere nicht dazwischen gegangen wäre.
Zischup: Du musst nach einem solchen Erlebnis schreckliche Albträume gehabt haben.
Gehringer: Ich muss mich oft wundern, dass ich nie Albträume hatte, trotz der vielen schlimmen Dinge, die passiert sind. Der Grund dafür könnte mein Alter gewesen sein. In manchen Momenten habe ich teilweise nicht alles verstanden, was geschehen ist.
Zischup: Wie hast du den Tag eurer Abreise in Erinnerung? Und wie seid ihr nach Deutschland gekommen?
Gehringer: Wir hatten sehr wenig Zeit, es musste alles ganz schnell gehen. Meine Mutter hat uns allen die Schuhe mit Geld ausgelegt. Wir haben so viele persönliche Dinge wie möglich mitgenommen. Es wurden uns aber alle Papiere abgenommen, und wir hatten nahezu alle Erinnerungsstücke, wie zum Beispiel Fotos, verloren. Wir sind dann mit vielen anderen Deutschen in Viehwagons abtransportiert worden und lagen die ganze Fahrt über auf eiskaltem Boden. Es war im Winter 1945 und es war bitterkalt. Neben mir sind alte Leute und Kinder gestorben. Sie wurden zugedeckt, und wenn wir anhielten, legte man sie draußen ab. Manchmal erhielten wir an Bahnhöfen etwas zu essen. Das ganze ging gute zwei Monate, bis wir dann im Januar 1946 in einem Auffanglager in Kiel untergebracht wurden.
Zischup: Fühlst du dich im Nachhinein deiner Kindheit beraubt?
Gehringer: Mittlerweile, mit über achtzig Jahren, denke ich nicht mehr darüber nach. In meiner frühen Jugend allerdings, als ich mich mit Gleichaltrigen hier aus dem Ort, in dem ich jetzt wohne, ausgetauscht habe, war mir schon bewusst, dass ich etwas verloren hatte. Ich habe mich auch sehr oft nach der vertrauten Umgebung zurückgesehnt. Aber ich habe es als einen Teil meines Lebens akzeptiert.
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