Interview
Freiburger Philosoph Andreas Urs Sommer über gesellschaftliche Gräben: "Wir können erstaunlich gut miteinander"
Unüberbrückbare Gegensätze – es scheint schlecht zu stehen um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Der Freiburger Philosoph plädiert für mehr Beteiligung, aber sieht die Lage nicht ganz so schlimm.
So, 29. Dez 2024, 13:53 Uhr
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BZ: Ob im Zusammenhang mit den Wahlen in Ostdeutschland und den USA, dem Umgangston in den Sozialen Medien oder, oder – regelmäßig ist die Rede von der auseinanderdriftenden Gesellschaft, in der wir leben. Die Gräben würden tiefer, heißt es. Was ist Ihre Beobachtung?
Ich sehe das nicht so dramatisch, wie das in der medialen Aufgeregtheit oft erscheinen mag. Mein Eindruck ist, dass wir hier ein grundsätzliches Modernisierungsproblem vor uns haben. Seit das Individuum in den letzten 500 Jahren einen immer zentraleren Stellenwert bekommen hat, sind wir immer weniger ganz natürlich in Gemeinschaften eingebunden. Früher war jeder in einem Dorf selbstverständlich Teil des sozialen Gefüges, hatte von Geburt an eine fest definierte Rolle – heute ist dasselbe Dorf hochgradig heterogen. Menschen leben und arbeiten in völlig unterschiedlichen Sphären. Wir sind in vielen soziale Rollen – Eltern, Beruf, Sport –, müssen uns immer wieder neu finden, integrieren und austarieren. Wir sind größtenteils frei in der Wahl der Gemeinschaft, gehören aber keiner Gruppe vollkommen an. Das ist immer wieder Quelle des Unbehagens.
BZ: Und dieses Unbehagen führt zu den oft zitierten Verwerfungen in der Gesellschaft, würden Sie sagen?
Ja, das kann man so sagen. Das Unbehagen führt zu einer fundamentalen Unsicherheit: Es könnte ja sein, dass eine andere Gemeinschaft – Verein, Partei – besser ist, mehr bietet. Dass man darauf aus Selbstschutz mit Abgrenzung und Selbstbehauptung reagiert, ist eine verständliche Reaktion. Dennoch finde ich das, wie gesagt, nicht so tragisch. Es gibt entlang der verschiedenen Gemeinschaften viele, ganz unterschiedlich verlaufende, aber nicht zu tiefe Gräben. Es besteht zwar eine starke mediale Fokussierung auf bestimmte Konstellationen, die den Eindruck entstehen lassen, dass die Gesellschaft in unversöhnliche Lager eingeteilt ist. Aber das sehe ich im persönlichen Umgang von Menschen, jenseits der digitalen Welt, überhaupt nicht. In unserer Breitensportgruppe in Broggingen beispielsweise gibt es Leute, die sehr andere politische Ansichten als ich haben, dennoch ist es kein Problem, mit ihnen Sport zu machen, ja, befreundet zu sein. Es ist eine Frage des Taktes, dass man da nicht auf Empfindlichkeiten einsticht. Ich muss ja niemanden von meinen Standpunkten überzeugen, um mit ihm oder ihr Volleyball spielen oder ein Bier trinken zu können.
BZ: Diskussionen oder Kommentare in den Sozialen Medien hinterlassen ja aber genau diesen Eindruck: Der oder die andere hat eine für mich abstruse Meinung, kann also kein netter Mensch sein. Entsprechend wird auf ihn oder sie verbal eingedroschen.
Das hängt stark damit zusammen, wie Medien funktionieren: als Aufmerksamkeitsgeneratoren. Wenn Christian Lindner, wie kürzlich, sagt, wir sollten mehr Musk und mehr Milei wagen, sind Leute, die nichts mit libertärer Politik am Hut haben, sofort auf 180. Die Provokationsmasche funktioniert. Ausgangspunkt bei diesen Kontroversen ist oft die Differenz, nicht das Gemeinsame. Dennoch können wir insgesamt eigentlich alle erstaunlich gut miteinander, obwohl wir so unterschiedlich sind. Wir nehmen Rücksicht, üben Toleranz. Ganz anders als früher, als es undenkbar war, dass eine Katholikin einen Protestanten heiratet – von einer Protestantin ganz zu schweigen.
BZ: Dass es auch früher große Gegensätze gab, übersieht man heute gern.
Ja, die heute oft idealisierte "alte" bundesrepublikanische Gesellschaft war auch keine Stammesgemeinschaft, in der immer Friede, Freude, Eierkuchen herrschte. Wenn man sich heute über die Debattenkultur im Bundestag aufregt, sollte man sich nur mal anschauen, wie Franz-Josef Strauß oder Herbert Wehner in den 1960ern mit ihren politischen Gegnern umgegangen sind. Und ja, der konfessionelle Graben hat tief in das persönliche Leben eingegriffen. Ein anderes Beispiel: Vor 100 Jahren war die Zeitungslandschaft sehr separiert, eine sozialdemokratische Familie las den "Vorwärts", eine katholische ein Blatt der katholischen Zentrumspartei. Die politischen Lager waren in ihrer Blase, haben ihr Weltbild oft aus der Lektüre dieser einen Zeitung gebildet.
BZ: Also gar nicht unähnlich der Blasen, von denen man heute spricht, wenn es um die Algorithmen von TikTok, X und Co. geht, die einem immer Ähnliches dazu präsentieren, was man einmal gelikt hat?
Ja, dennoch sind wir heute eher weit gefächerter informiert. Wir kriegen ja schon mit, was in den benachbarten Blasen passiert. Ich finde es ja grundlegend positiv und würde es als Fortschrittsgewinn verbuchen, dass im Netz jeder eine Stimme hat, sich äußern kann zu Klima oder Astrophysik, davon unabhängig, ob er eine Qualifikation dafür vorlegt. Andererseits: Man wird auch oft nicht gehört. Daraus folgt – und hier sind wir wieder beim Stichwort Aufmerksamkeitserzeugung: Je angriffslustiger und gemeiner Sie sind, desto eher werden Sie wahrgenommen. Mit reflektiertem, differenziertem Umgang gelingt das nicht. Daher wird es umso schriller, je weniger sich die Leute gehört fühlen. Dazu kommt: Das Reden- oder Postendürfen geht nicht mit Gestaltenkönnen einher.
BZ: Und das Geschrei im Netz vertieft tendenziell wiederum bestehende Differenzen...
Ja, es führt zu ideologischen Zementierungen. Dazu, dass sich, wie Sie schon sagten, viele Menschen nicht vorstellen können, dass jemand mit entgegengesetzter politischer Meinung ein feiner Mensch sein kann. Diese Ideologisierungen sind aber nicht hilfreich. Unsere Erkenntnisse, zumal die politischen, sind immer nur vorläufig, sie sind nie die letzte Wahrheit. Es kann gut sein, dass es anders kommt. Das bringt die Beschränktheit unseres Horizontes mit sich. Es scheint mir daher sinnvoll, anzuerkennen, dass in einer mir widerwärtigen Ansicht möglicherweise ein Funken Wahrheit steckt. Ebenso sinnvoll ist es, mit der Person ins Gespräch zu kommen, anstatt sie zu verteufeln. Zu versuchen zu verstehen, was sie zu ihren Argumenten bringt. Das ist natürlich ein hehres Ideal, klar, aber es ist einen Versuch wert.
BZ: In einem anderen Interview plädieren Sie dafür, nicht so sehr auf die Gegensätze zu schauen, sondern dahin, wo man hin will als Gesellschaft. Liegt darin die Lösung für gemeinschaftliches Verhalten?
Ich würde sagen, dass das Ziel, die gesellschaftliche Entwicklung, unserer aller Aufgabe ist. Daher ist es notwendig, auch alle mitzunehmen. Ich sehe die Delegierung dieser Aufgabe an Profis sehr skeptisch. Dass wir politisches Personal brauchen, das Entscheidungen vollzieht, oder Wissenschaftler, die uns beraten, ist klar. Zumindest die großen politischen Entscheidungen sollten aber gemeinsame Entscheidungen sein. Mehr eingebunden zu werden, bringt ein ganz anderes Wirksamkeitsbewusstsein mit sich. Leute fühlen sich mitgenommen. In meinem Heimatland, der Schweiz, ist es für die Leute von Kindesbeinen an selbstverständlich, gemeinsam über politische Dinge zu entscheiden. Ideologische Verkrustungen werden so unwahrscheinlicher. Für uns Schweizer ist es eine politische Grunderfahrung, dass wir Mehrheiten immer neu suchen müssen – ein Gegner bei dieser Abstimmung kann bei der nächsten ein Verbündeter sein. Es ist daher ungünstig, es sich dauerhaft mit einer Gruppe zu verscherzen. Es ist ein ständiger Prozess des Austarierens.
BZ: Wie wirkt sich das auf die Gesellschaft aus?
Ich würde sagen, es herrscht ein anderer Umgang mit Politik. Das – politische – Selbstbewusstsein ist höher aufgrund des grundlegenden Gefühls, zumindest im Prinzip den politischen Raum selbst gestalten zu können. Wenn man eher links oder grün eingestellt ist, geht das in der konservativen Schweiz natürlich auch mit einer hohen Frustrationserfahrung einher. Dennoch erleben die Menschen, dass es möglich ist, mit einer politischen Idee durchzukommen, die nicht die des sogenannten Establishments, der politischen Parteien, ist. Wenn in Deutschland diskutiert wird, geht es oft um Grundsätzliches, Ideologisches. In der Schweiz verlaufen Diskussionen sachbezogener, fokussierter, da redet man mal drei Monate nur über Autobahnen oder Kampfjets, weil darüber als Nächstes abgestimmt wird.
BZ: Oft wird ja gegen die direkte Demokratie genau damit argumentiert, dass man den Leuten nicht zutraut, ständig fundierte Entscheidungen treffen zu können.
Mein Argument ist, dass sie – wir alle – solche konkreten Abstimmungsfragen weit besser überblicken und für uns beantworten können als die viel abstraktere Wahlentscheidung für eine Partei und ihr Programm. Was sind die Vorteile, was die Nachteile eines Autobahntunnels? Soll Basel den Eurovision Song Contest finanzieren? Das sind klare Fragen. Wenn man es den Menschen generell abspricht, diese politische Erkenntnisfähigkeit zu haben, muss man sich von vorneherein für ein anderes, nicht-demokratisches System entscheiden. Aber wenn wir prinzipiell sagen, dass die Menschen die Mündigkeit besitzen, zu entscheiden, sollten wir ihnen auch zumuten, das – wie in der Schweiz – in Einzelfragen auch zu tun. Was ja nicht heißt, dass sie sich immer beteiligen müssen. Untersuchungen zeigen, dass viele Schweizer nicht an allen Abstimmungen teilnehmen, sondern nur dann, wenn sie denken, sie seien kompetent.
BZ: Eine direkte Demokratie wird es in Deutschland auf Weiteres sicher nicht geben. Wie können wir hier Gräben überbrücken?
Es gibt auch ohne direkt-partizipatorische Demokratie viele Möglichkeiten der aktiven Teilnahme. Ich rate sehr zu dem Mut, ganz verschiedene Dinge anzupacken. Ich habe neulich in Reute, bei einer Aktion des Vereins Die Hilfemacher aus Sexau, Weihnachtspakete mit Lebensmitteln für Tafeln zwischen Bad Krozingen und Herbolzheim gepackt. 65 sehr verschiedene Helfer, die sich großteils nicht kannten, kamen da in einer spontanen Gemeinschaft für einen Nachmittag zu einem Zweck zusammen, den alle sehr sinnvoll fanden. Sie können in Bürgerinitiativen, Vereinen anpacken, sich in den Gemeinderat wählen lassen, in Ihrer Kommune ein Bürgerbegehren starten. Wir haben die Freiheit, uns immer wieder neu zu platzieren, häufiger den Standort zu wechseln. Das ist ein hohes Gut. Und es ist zudem eine sinnvolle Übung, um die Standpunkte der anderen besser zu verstehen.
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