Die Zahnlücke

Die Comicreihe "Die Unheimlichen" wirft einen neuen Blick auf bekannte Werke der Schauerliteratur.  

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Lukas Jüliger nach Edgar Allan Poes „Berenice“   | Foto: verlag
Lukas Jüliger nach Edgar Allan Poes „Berenice“ Foto: verlag
"Das Erste, was ich von ihr sah, war das Video, in dem sie starb." Nach zwei Jahren kehrt der japanische Junge aus dem Krankenhaus zurück. Im Internet entdeckt er die Nachbarstochter wieder. Einmal durfte er sie einst küssen – ein Schlüsselmoment. "Mir stockte der Atem: die Lücke zwischen ihren Schneidezähnen", erinnert er sich, "sie war wie der Spalt zwischen den Vorhängen, hinter denen sich alle Geheimnisse verbargen."

Jetzt ist aus dem normalen Mädchen die Popikone Hatsune Miko geworden, ein Camgirl, das sich jede Nacht ihrem großen Onlinepublikum präsentiert. Es kostümiert sich, inszeniert sich, seine dunklen Seiten und Suizide. Fans können getragene Höschen erwerben. Doch nie, wenn Miko lächelt, zeigt sie ihre Zähne. Genau nach diesem Anblick aber trachtet der Junge: Alles werde wieder gut, glaubt er, könnte er noch einmal diese Lücke sehen.

Einsamkeit, Fremdheit, die Lust am Untergang

Klingelt da etwas im Hinterstübchen? Wenn, dann vermutlich nur leise: Die neue Comicreihe "Die Unheimlichen" basiert auf bekannten Werken der Schauerliteratur. Die ersten drei der zehn geplanten Bände sind "Den Nachfolgern im Nachtleben" von Sarah Khan, Elfriede Jelineks "Der fremde!" und "Berenice" von Edgar Allan Poe. Herausgeberin Isabel Kreitz hat deutschsprachige Künstlerinnen und Künstler ermuntert, ihren ganz eigenen Zugang zu den Geschichten auszudrücken. Kreitz selbst hat sich Sarah Khan vorgenommen. Lukas Jüliger widmet sich der Erzählung von Poe.

"Vakuum", das Debüt des 1988 geborenen Künstlers, hatte 2012 Aufsehen erregt und überschwängliche Kritiken erhalten. Es ging um Einsamkeit, Fremdheit und die Lust am Untergang unter Heranwachsenden. Jüligers beeindruckende "Berenice"-Interpretation besitzt einen ähnlich melancholischen Ton. Von Poes Vorlage bleibt nur der Kern übrig – eine Beziehung zwischen Besessenheit und Fetischismus. Als Figuren hat Jüliger erneut Jugendliche gewählt, mit denen etwas nicht stimmt. Die Handlung spielt jetzt, in Japan, in echten und virtuellen Räumen. Die Zeichnungen sind ausdrucksstark und real, aber sie erzeugen eine verlorene, leicht surreale Stimmung. Am Ende kommt Jüliger wieder auf Poes "Berenice" zurück. Das Gesicht des Jungen, der Miko verfallen ist, zeigt er kein einziges Mal. Jüliger erzählt konsequent in der Ich-Form – auch grafisch.

Erzählerisch und grafisch nehmen sich Kreitz und Nicolas Mahler ebenfalls Freiheiten, die ihre Interpretationen spannend machen. Alle Bände bekommen einen zusätzlichen durch das ungewöhnliche Format: Die Zeichnungen entstanden von Vorneherein in Taschenbuchgröße. Sie erlaubt es, Seiten und Sequenzen völlig anders zu konzipieren als bei Alben. Jüliger lässt einmal drei gleichförmige, graue Blätter aufeinander folgen. "Die Unheimlichen" haben mit den ersten Bänden die Latte hoch gelegt. Für die nächsten Staffeln sind Graphic Novels von Barbara Yelin und Birgit Weyhe vorgesehen.

Isabel Kreitz (Hrsg.): Die Unheimlichen. Bisher drei Bände – Isabel Kreitz, Sarah Khan: "Den Nachfolgern im Nachtleben", Nicolas Mahler, Elfriede Jelinek: "Der fremde", Lukas Jüliger, Edgar Allan Poe: "Berenice". Carlsen Verlag, Hamburg 2018. Jeweils 64 Seiten, 12 Euro.
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