Nachruf
Der Größte – Zum Tod von Muhammad Ali
Niemals zuvor und niemals danach erreichte das Boxen eine Popularität wie zu Zeiten von Muhammad Ali – nun ist er im Altern von 74 Jahren gestorben. Ein Nachruf.
Mo, 6. Jun 2016, 0:00 Uhr
Ausland
Thema: Nachruf
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"The Greatest": Ein Beiname, der sich längst nicht mehr nur sportlichen Erfolgen verdankt – der dreimaligen Titeleroberung als Weltmeister im Schwergewicht, den Siegen gegen alle Großen zur Hochzeit des Sports. Fachleute haben Ali zum Sportler des 20. Jahrhunderts erklärt, doch das erklärt nicht, warum der Geheimdienst NSA ihn überwachte und selbst Superman in Comics der 70er Jahre gegen ihn verlor. Muhammad Ali war "The Greatest", weil er den Sport, das Rollenverständnis und die Gesellschaft seiner Zeit grundlegend änderte. Seine moralische Autorität reichte weit über die Boxarenen hinaus.
Der Anstoß, den er erregte, allerdings auch. "Ich bin Amerika", schrieb er seiner Nation 1964 ins Stammbuch. "Ich bin der Teil, den ihr nicht anerkennt, aber gewöhnt euch an mich: Schwarz, selbstbewusst, anmaßend. Mein Name, nicht eurer. Meine Religion, nicht eure. Meine Ziele, nicht eure. Gewöhnt euch an mich." Dank Muhammad Ali sei die Welt ein besserer Ort, sagte Obama am Samstag. The Greatest war der Boxer auch deshalb, weil er bereit war, für Ideale hohe Opfer zu bringen.
Muhammad Ali wurde am 17. Januar 1942 in Louisville im US-Bundesstaat Kentucky als Cassius Marcellus Clay Jr. geboren; er war der ältere von zwei Söhnen. Den ersten Zahn soll er seiner Mutter, einer Hausangestellten, schon mit 18 Monaten versehentlich ausgeschlagen haben; der Vater war Plakatmaler.
Als Clay zwölf Jahre alt war, wurde ihm sein Fahrrad gestohlen. Dem Polizisten, dem er davon erzählte, versprach er, den Dieb zu vermöbeln. Der Beamte war Boxtrainer und gab einen guten Rat: "Du lernst besser, wie man kämpft, bevor du Leute herausforderst." Am nächsten Tag begann das 40 Kilogramm leichte Kind, bei ihm zu trainieren – und gewann sechs Wochen später seinen ersten Kampf. Von da an ging die Karriere steil bergauf.
Als Clay 1960 bei den Olympischen Spielen in Rom die Goldmedaille gewann, hatte er in 100 von 108 Amateurkämpfen gesiegt. In Louisville wurde er gefeiert, konnte aber immer noch nicht alle Lokale betreten. "Ich wurde immer noch wie ein Nigger behandelt", sagte er später.
Clays Einstieg ins Profigeschäft sorgte bei Fachleuten für Erstaunen. Zum einen war da sein sportlicher Stil – so viel Bewegung hatte es in der Schwergewichts-Klasse zuvor nicht gegeben. Clay war schwer zu treffen und schwer einzuschätzen: Seine Beinarbeit begeisterte selbst Ballettexperten; rapide Folgen von Scheinattacken verschwammen vor den Augen der Gegner zu einer Art Flattern – den eigentlichen Hieb sahen sie nicht kommen. "Schwebe wie ein Schmetterling, stich wie eine Biene" beschrieb er seine Taktik. Er scherte sich auch verbal wenig um die Gepflogenheiten. Statt Promoter für sich sprechen zu lassen, suchte Clay selbst das Scheinwerferlicht und sparte nicht mit Provokationen und Großspurigkeit.
Clay wurde nicht nur für Prahlereien zu seinem Status ("Ich bin der Doppelgrößte!") und seiner Optik bekannt ("Ich bin das Schönste, was je gelebt hat!"), sondern genauso für die heftigen, oft gereimten Beleidigungen, mit denen er seine Gegner zur Weißglut trieb. Den amtierenden Schwergewichts-Weltmeister Sonny Liston bezeichnete der 22-Jährige als stinkenden, ekelhaften Bären, den er an einen Zoo spenden werde. Am 25. Februar 1964 standen die Wettquoten in Miami sieben zu eins gegen Clay, doch Liston ging überhastet in den Kampf und gab schließlich verletzt auf. "Ich bin immer noch hübsch", ätzte der triumphierende Sieger. Er hatte bereits eine weit ernstere Provokation in petto: Zwei Tage nach seinem Titelgewinn teilte Cassius Clay der Öffentlichkeit mit, dass er der Nation of Islam beigetreten sei.
Die Organisation, auch unter dem Namen "Black Muslims" bekannt, betrachtete Weiße als böse und trat für einen separaten schwarzen Staat auf nordamerikanischem Boden ein – Thesen, von denen sich Clay später zugunsten eines Ideals universaler Brüderlichkeit distanzierte. Islam bedeute Frieden, sagte er 1964 vor Reportern. "Ich kann kein Christ sein, wenn ich sehe, dass all die farbigen Menschen, die für erzwungene Integration kämpfen, getötet werden." Dann gab er den Namen auf, der seiner Familie von Sklavenbesitzern gegeben worden war, fortan nannte er sich Muhammad Ali.
"Ich muss nicht das sein, was ihr wollt", erklärte er Journalisten in einem seiner berühmt gewordenen Statements. "Ich bin frei, zu sein, wer ich möchte." Das waren unerhörte Sätze für einen Schwarzen, und Ali wich keinen Zentimeter zurück. Ernie Terrell, der sich wie andere Kollegen auch weigerte, den neuen Namen zu benutzen, schlug er 1967 grausam lange zusammen. "Was ist mein Name, Uncle Tom?", rief er zwischen den Hieben. "Wie heiße ich?"
Doch der schwerste Affront gegen das etablierte Amerika sollte erst noch kommen: 1967 verweigerte der 25-Jährige den Einberufungsbefehl und damit den Kriegseinsatz in Vietnam. Seine Religion verbiete es ihm, für ein nicht-muslimisches Land zu kämpfen, teilte er mit. Sein Gewissen erlaube ihm nicht, farbige Menschen in Asien zu töten. "Ich habe kein Problem mit dem Vietcong, kein Vietcong hat mich je Nigger genannt": Mit solchen Sätzen machte sich Ali zu einem der meistgehassten Menschen in den USA. "Bringt mich einfach ins Gefängnis."
Alis fünfjährige Haftstrafe wurde bis zum Widerruf des Urteils durch das Höchste Gericht 1971 zwar ausgesetzt. Doch er verlor Millionen an Werbeeinnahmen, und der Entzug von Boxlizenzen und Reisepass bedeutete, dass er in seinen besten Jahren nicht boxen konnte. "Er warf sein Leben fort für etwas, an das er glaubte", sagte sein Promoter Howard Conrad später. "Das tun nicht viele."
Während der Auszeit kippte die öffentliche Stimmung – gegen den Vietnam-Krieg sowohl wie gegen die Verfolgung des Boxidols. Das Magazin Esquire zeigte Ali auf seinem Cover in der Pose des Märtyrers Sebastian. Der Bürgerrechtler Jesse Jackson verglich seine Bedeutung mit derjenigen des schwarzen Olympiasiegers Jesse Owens in Hitlers Berlin. Der Athlet selbst wurde quer durchs Land zu Reden geladen.
Bei seiner Rückkehr in den Ring hatte er an Wendigkeit verloren, dafür aber eine neue Qualität an sich entdeckt: Er konnte weitaus mehr einstecken als andere. Die Strategie, einen Gegner sich müde schlagen zu lassen, um ihn dann niederzustrecken, wandte er am effektivsten gegen George Foreman an – beim "Rumble in the Jungle" im damaligen Zaire 1974: Mit dem Sieg gegen den damaligen Schwergewichts-Champion kehrte Ali in Amt und Würden zurück und erinnerte nebenbei jeden, der es hören wollte, daran, dass Schwarze ein Land regieren konnten.
Mit dem jungen Joe Frazier, der während Alis Auszeit aufgestiegen war, tat er sich schon schwerer. Nach einer ersten Niederlage im "Kampf des Jahrhunderts" 1971 und einem Rematch, das Ali gewonnen hatte, schlugen sich die beiden 1975 beim "Thrilla in Manila" vor 770 Millionen Fernsehzuschauern halbtot, bevor Frazier aufgeben musste. "Mein Gott, was der Mann mir angetan hat", stöhnte Ali später.
Da konnte er noch nicht wissen, dass 1984 bei ihm Parkinson diagnostiziert werden würde. 1978 gewann der Athlet die WBA-Weltmeisterschaft noch einmal von Leon Spinks zurück, der sie ihm völlig überraschend abgenommen hatte. 1980 fiel Ali durch erste Stottererscheinungen und zitternde Hände auf. Trotzdem weigerte er sich zunächst, abzutreten. Sein ehemaliger Trainingspartner Larry Holmes weinte, nachdem er sich elf Runden lang bemüht hatte, sein fast bewegungsloses Idol zu schonen. 1981 zog Ali sich ins Privatleben zurück.
In der Versenkung verschwand er dennoch nicht. Ali engagierte sich als Missionar und wurde einer der profiliertesten Wohltäter seiner Nation. Der Mann, den Präsident Jimmy Carter als "Mr. International Friendship" bezeichnete, organisierte Spenden für die Dritte Welt; als Unterhändler, Friedensbotschafter und Sondergesandter reiste er nach Irak, Afghanistan und Afrika. Das eindrücklichste Bild der Olympischen Spiele von Atlanta 1996 war der schwer angeschlagene Ali, der mit zitternden Händen die olympische Flamme entzündete. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 besuchte der bekannteste Muslim der Welt Ground Zero und erinnerte sein Land daran, dass das Gedankengut der Attentäter mit dem wahren Islam nichts zu tun habe. 2005 eröffnete er in seiner Heimatstadt Louisville das Muhammad Ali Center, das sich für soziale Verantwortung und persönliche Entwicklung engagiert.
Wenn es ums Boxen ging, kannte Alis Bereitschaft zu Großsprecherei kaum Grenzen. Privat jedoch war er bescheiden. Das Parkinson-Leiden habe ihn menschlicher gemacht, antwortete er einmal auf die Frage nach den Gründen für seine Popularität. In Erinnerung bleiben wollte er der Nachwelt als großer Boxer, der versucht habe, die Menschheit durch Glauben und Liebe zu einen. "Dann würde es mir nicht einmal etwas ausmachen, wenn die Leute vergessen, wie hübsch ich war", schrieb er in seinen Memoiren.
Am Donnerstag wurde Ali wegen Atemproblemen in ein Krankenhaus nach Scottsdale, Bundesstaat Arizona gebracht. Am Freitag starb er an den Folgen eines septischen Schocks. Er hinterlässt seine Frau Yolanda Williams, sieben Kinder aus vier Ehen sowie zwei weitere Töchter aus anderen Beziehungen.
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