BZ-Interview

Arbeitsexperte: "In Bildung der Flüchtlinge zu investieren, ist sehr gut angelegtes Geld"

Etwa eine Million Menschen könnten in diesem Jahr nach Deutschland kommen, um Schutz zu suchen – und eine Beschäftigung. Viele von ihnen sind ohne Berufsabschluss, sagt der Ökonom Herbert Brücker. Über die Probleme, Risiken und Chancen spricht er im Interview.  

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Protest gegen das Nichtstun vor zwei Wochen vor einer Flüchtlingsunterkunft in Hamburg. Drei Monate lang gilt für Asylbewerber ein Arbeitsverbot, auch danach steht manche hohe Hürde vor dem ersten Job im neuen Land. Foto: dpa
BZ: Herr Brücker, so viele Flüchtlinge wie lange nicht kommen nach Deutschland. Jetzt warnt der Deutsche Gewerkschaftsbund davor, die Schutzsuchenden könnten hier als Billigarbeiter missbraucht werden. Sind denn solche Warnungen nötig?
Brücker: Es gibt im Moment keine Hinweise darauf, dass es bei legalen Beschäftigungsverhältnissen Probleme gibt. Wer überhaupt eine Arbeit aufnehmen darf, tut das in der Regel in Tätigkeiten, die relativ geringe Qualifikation verlangen – in der Gastronomie, der Landwirtschaft, der Pflege. Solange diese Beschäftigungsverhältnisse den gesetzlichen und tariflichen Regeln entsprechen, zum Beispiel geltende Mindestlöhne gezahlt werden, sehe ich darin kein Problem. Aber weil es für Asylbewerber rechtlich schwierig ist, einer legalen Beschäftigung nachzugehen, gibt es starke Anreize, schwarzzuarbeiten. In den ersten drei Monaten dürfen Asylbewerber gar nicht arbeiten, danach nur, wenn kein Deutscher oder EU-Ausländer für die Stelle infrage kommt. Das größte Hindernis ist aber, dass die rechtliche Unsicherheit über den Verbleib in Deutschland hoch ist. Das macht es für die meisten Unternehmen uninteressant, Asylbewerber einzustellen. Das ändert sich erst, wenn das Asylverfahren abgeschlossen ist. Darum bleibt für viele Asylbewerber oft nur die Schwarzarbeit als Ausweg. Die Umstellung von Geld- auf Sachleistungen erhöht darüber hinaus die Anreize für Schwarzarbeit.

"Der syrische Arzt oder der Hightech-Ingenieur aus dem Irak, von denen oft gesprochen wird, sind eher die Ausnahme."

BZ: Was wissen Sie über die Qualifikationen und die Kompetenzen der Menschen, die jetzt zu uns kommen?
Brücker: Repräsentative Daten zur Qualifikation der Asylbewerber gibt es nicht, nur Hinweise aus Daten für Teilgruppen. Wir müssen die schulische und die berufliche Bildung unterscheiden. Die Schulbildung der Flüchtlinge ist nicht sehr viel schlechter als bei anderen Migrantengruppen, nur der Anteil der Personen ohne ‎Hauptschulabschluss ist mit rund 15 Prozent etwas höher als bei anderen Migranten. Allerdings haben auch 15 bis 20 Prozent der Flüchtlinge die Hochschulreife. Die berufliche Qualifikation dagegen ist sehr viel schlechter. Wir rechnen damit, dass 55 bis 70 Prozent der Flüchtlinge keine abgeschlossene Berufsausbildung haben, rund 10 bis maximal 15 Prozent einen Hochschulabschluss. Der syrische Arzt oder der Hightech-Ingenieur aus dem Irak, von denen oft gesprochen wird, sind eher die Ausnahme. Insgesamt haben die Flüchtlinge ein Bildungsniveau, das im Schnitt deutlich schlechter ist als das der deutschen Bevölkerung und auch der ausländischen Bevölkerung, die bereits in Deutschland lebt.

BZ: Woran liegt das?
Brücker: Zu erheblichen Teilen an der Altersstruktur der Menschen. Mehr als 70 Prozent der Flüchtlinge sind unter 30 Jahre alt, mehr als die Hälfte ist unter 25. Viele Menschen in diesem Alter haben schlicht ihre Bildungskarriere noch nicht beendet und viele mussten sie wegen der Wirren in ihrer Heimat, wegen denen sie ja geflüchtet sind, unterbrechen. In vielen Herkunftsländern können auch berufliche Abschlüsse, wie wir sie kennen, gar nicht vorliegen, weil es dort ein solches Ausbildungssystem nicht gibt.

"Das wird ein spannendes Experiment."

BZ: So viele junge Menschen – das klingt nach einer großen Chance für eine alternde Gesellschaft wie die deutsche. Was ist nötig, um die Chance nicht zu verspielen?
Brücker: Es gibt sehr viel zu tun. Derzeit fehlt vielen Schutzsuchenden Rechtssicherheit, weil die Asylverfahren zu lange dauern. Mindestens genauso wichtig ist, schnell in Sprachkompetenzen zu investieren – am Anfang Ganztageskurse, später berufsbegleitende Förderung ...

BZ: ... Obwohl es solche Forderungen seit Monaten gibt, hat sich die Bundesregierung erst vor Kurzem aufgerafft, mehr Mittel zur Verfügung zu stellen.

Brücker: Schuldzuweisungen helfen nicht weiter. Sicher, wir brauchen mehr Geld, um ein flächendeckendes Angebot an Sprachkursen zu schaffen, aber ebenso innovative Konzepte wie virtuelle Sprachkurse per Internet. Die Sprachkompetenz ist die Bedingung dafür, die vielen jungen Leute zu einem schulischen und/oder beruflichen Abschluss zu bringen. Dazu bedarf es auch einer Reform des BAföGs, um die Menschen auf diesem Weg finanziell zu unterstützen.

"Am Ende steht ein Abschluss, ohne dass der Mensch eine dreijährige Ausbildung von vorn beginnen muss."

BZ: Deutsche Gründlichkeit sei gut, aber jetzt sei deutsche Flexibilität gefragt – sagte jüngst ausgerechnet die Kanzlerin eines Landes, in dem alles, was zählt, beurkundet und zertifiziert sein muss. Kann Deutschland bei der Integration von Flüchtlingen in Arbeit überhaupt so flexibel sein, wie es jetzt nötig wird?
Brücker: Das wird ein spannendes Experiment. Wir stehen vor enormen Veränderungen und deshalb sollten wir unsere Routinen überdenken. Ein zentraler Punkt ist die Qualifikationsfeststellung. Es kommt ja kaum einer mit einem Zertifikat nach der deutschen Handwerksordnung. Wir sollten daher neue, flexible Wege finden, überhaupt festzustellen, was die Menschen können, die zu uns kommen. In den Arbeitsagenturen gibt es schon einige experimentelle Programme dazu. Viele Flüchtlinge gingen in ihrer Heimat angelernten Tätigkeiten nach, die man hier in Deutschland beruflich verwerten kann. Wer in seiner Heimat als Schuster, Schreiner oder Kfz-Mechaniker gearbeitet hat, bringt einiges mit, was wir brauchen. Es wäre klug, diese Menschen in die Betriebe zum Probearbeiten einzuladen. Dann schaut man, was er kann oder was sie kann. Die entdeckten Kompetenzen können wir zertifizieren – und zwar als Modul einer vollständigen Ausbildung, wie sie in der deutschen Ausbildungsordnung vorgesehen ist. Wenn meinetwegen zu einer Ausbildung zum Schreiner zehn Module gehören, und ein Flüchtling bringt nach einer Qualifikationsfeststellung fünf mit, schult man den Rest pragmatisch nach und am Ende steht ein Abschluss, ohne dass der Mensch eine dreijährige Ausbildung von vorn beginnen muss. Damit das gelingt, müssen die Unternehmen zeigen, wie flexibel sie sein können – und auch die Institutionen.

BZ: Aus den Kammern ist zu hören, man sorge sich angesichts solcher Vorschläge, dass die hohe Qualität des dualen Ausbildungssystems verwässert werde.
Brücker: Ich teile diese Sorge nicht. Wenn die Qualifikationsfeststellung gut funktioniert, ist unser Ausbildungssystem nicht in Gefahr – im Gegenteil, wir entwickeln es weiter.BZ: Jenseits des grundgesetzlich verankerten Rechts auf Asyl, stellt sich die Frage, ob Deutschland auch ökonomisch vom Zuzug profitieren kann.
Brücker: Das liegt maßgeblich an unseren Entscheidungen. Es ist doch klar, dass viele der Menschen, die jetzt zum Beispiel aus Syrien oder dem Irak zu uns kommen, bleiben werden. Wer so tut, als lohne es sich nicht, in diese Menschen zu investieren, macht den gleichen Fehler wie bei früheren Generationen sogenannter Gastarbeiter, die auch keine Gäste blieben. Jetzt in Bildung und Ausbildung der Flüchtlinge zu investieren, ist sehr gut angelegtes Geld. Wir wissen aus früheren Migrationsbewegungen, dass das einer Volkswirtschaft hohe Renditen bringt. Jeden Euro, den wir dafür ausgeben, werden wir mit Zins und Zinseszins in den Sozialkassen zurückbekommen. Am Anfang kostet das wie jede Investition Geld, aber später zahlen die Menschen Steuern und Abgaben, und sie brauchen gleichzeitig keine oder wenige Sozialleistungen.

"Der Zuzug von Menschen hat neue Beschäftigungsfelder entstehen lassen."

BZ: Wächst hierzulande die Konkurrenz für Arbeitslose und gering Qualifizierte?
Brücker: Das glaube ich eher nicht. Der Arbeitsmarkt ist heute schon stark segmentiert zwischen Migranten und Inländern. Wenn überhaupt, dürfte es mehr Wettbewerb mit anderen Migranten geben – etwa mit Osteuropäern. In den vergangenen fünf Jahren sind in Deutschland eine Million Beschäftigungsverhältnisse von Ausländern entstanden, zu großen Teilen in Gastronomie, Landwirtschaft, Pflege und Bauwirtschaft. Dort braucht man zwar kein hohes formales Ausbildungsniveau, aber die Tätigkeiten sind körperlich oder psychisch sehr anstrengend. Diese Arbeit kann und will nicht jeder machen. Junge Migranten sind prädestiniert dafür, diese Arbeiten zu übernehmen. Ich gehe davon aus, dass viele der Flüchtlinge in diese Arbeitsmarktsegmente drängen – und deshalb selten in Konkurrenz zu Deutschen und zu Langzeitarbeitslosen geraten. Wenn man diese Frage diskutiert, ist es auch wichtig, sich die Zahl aller Arbeitsplätze in Deutschland nicht statisch vorzustellen. Es ist nicht so, dass ein Mensch einem anderen einen Arbeitsplatz wegnimmt, wenn er selbst eine Stelle antritt. Stattdessen ist der Arbeitsmarkt sehr dynamisch. Es ist nicht so, dass die Arbeitsnachfrage gegeben ist. Wenn das Arbeitsangebot steigt, wird mehr investiert, produziert und konsumiert. Es entstehen neue Beschäftigungsfelder. Ohne Migration hatten wir in Deutschland zum Beispiel keinen Spargelanbau mehr im heutigen Ausmaß und viel weniger Pflegekräfte im häuslichen Bereich. Der Zuzug von Menschen hat neue Beschäftigungsfelder entstehen lassen und so wird das jetzt auch mit den Flüchtlingen sein. Ich mache mir keine Sorgen um Verdrängungseffekte, aber ich mache mir schon Gedanken, wie es gelingen kann, diese Menschen schnell in Ausbildung und Arbeit zu bringen. Die Integration ist eine gewaltige Aufgabe.
Zur Person

Herbert Brücker (55) ist einer der profundesten Kenner der Migrationsbewegungen auf den deutschen Arbeitsmarkt. Er ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bamberg und Forschungsbereichsleiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. Das IAB ist eine Forschungseinrichtung und Denkfabrik der Bundesagentur für Arbeit sowie eines der größten Wirtschaftsforschungsinstitute in Europa.

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