Züge wie Geisterschiffe

Der junge schwedische Schriftsteller Stig Dagerman war 1946 im zerstörten Deutschland unterwegs /.  

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Aus der Tschechoslowakei vertriebene Flüchtlinge auf dem Weg nach Deutschland Foto: imago stock&people via www.imago-images.de
"Man fährt eine Viertelstunde mit dem Zug und hat ununterbrochen Aussicht auf etwas, das aussieht wie eine gigantische Müllkippe für kaputte Hausgiebel." Trümmer, Hoffnungslosigkeit, Flüchtlinge, Hunger, Apathie, Zynismus – Aleppo, Bagdad, Kabul? Nein, Hamburg-Eilbeck, Herbst 1946. Vor 75 Jahren schickte die schwedische Abendzeitung Expressen den jungen Schriftsteller Stig Dagerman auf eine zweimonatige Reportagereise durch Deutschland. Der 23-Jährige hatte im Jahr zuvor mit seinem Debütroman "Die Schlange" für Aufsehen gesorgt und Angstträumen neue literarische Dimensionen erschlossen. Die Redaktion von Expressen bot ihm die Gelegenheit, sich dem realen Albdruck zerstörter Ruinenlandschaften, die einmal deutsche Großstädte waren, zu stellen.

Dagerman hatte im Blatt der schwedischen Syndikalisten bereits journalistische Erfahrungen gesammelt und in diesem Umfeld auch seine spätere Ehefrau Annemarie Götze kennengelernt. Götze war mit ihren Eltern 1934 aus Deutschland geflohen und mit Umweg über den spanischen Bürgerkrieg schließlich in Schweden gelandet. Die Vertrautheit mit der Perspektive von Deutschen, die keine Nazis waren, dazu deren Kontakte in ihr Heimatland ermöglichten Dagerman, sich abseits vorgebahnter journalistischer Pfade und Priorisierungen durch die Besatzungszonen bewegen.

Sein wichtigstes Reisemittel war der Zug. Zusammen mit den zahllosen Deutschen, die unablässig in frustrierenden Tauschgeschäften auf der Suche nach Essbarem unterwegs waren, quetschte er sich in überfüllte Personenzüge. Aber anders als die teilnahmslosen Augen seiner Mitreisenden schaute er, wenn die Fensteröffnungen mal nicht mit Brettern vernagelt waren, hinaus auf die apokalyptische Trümmerlandschaft.

Züge offenbarten die neue Ordnung. Vorrang hatten in der Regel Güterzüge. Sie transportierten Waren, die für die Besatzungsmächte relevant waren. Die vollgestopften maroden Personenzüge mussten sich gedulden. Die unterste Stufe bildeten Waggons, die mit kleinen Plaketten versehen waren: für den Transport empfindlicher Waren ungeeignet. In normalen Zeiten hätte man sie ausrangiert. Jetzt tauchten sie hartnäckig wie Geisterschiffe in den Bahnhöfen auf. Ihr Frachtgut, für das es keine Rolle spielte, wenn es von Wasser durchtränkt wurde, waren Flüchtlinge. Einer dieser Geisterzüge stand 1946 im kalten Dauerregen eines Essener Bahnhofs. Darin ein paar hundert Essener, die erst vor den Bombenangriffen nach Bayern aufs Land evakuiert und nun von den dortigen Behörden in ihre Heimat zurückverwiesen worden waren. In den großen Städten herrschte allerdings Zuzugsverbot. Hunderte von Heimkehrern waren nach wochenlanger Geisterfahrt auf unbestimmte Zeit in ihrer Heimatstadt auf einem Abstellgleis gestrandet. Dagerman begleitete einen jungen Amtsarzt, der nur festzustellen hatte, dass der allgemeine Gesundheitszustand schlecht war, tun konnte und durfte er nichts.

Überall in Deutschland landeten täglich Zugladungen von Flüchtlingen. Niemand wollte sie, alle hatten Hunger, Städte keine Kapazitäten. In den Trümmerstädten war glücklich, wer einen bewohnbaren Keller für die Familie fand, auch wenn das Wasser dort bis zu den Knöcheln stand. War diese Wucht der Niederlage nicht eine gerechte Strafe für eine Nation, die so viele Millionen Tote zu verantworten hatte? Dagerman registrierte sehr wohl, dass ein jüdischer Entlastungszeuge für ein Entnazifizierungsverfahren 100 Mark kostete und es die gleichen Chancen für alle in einer fiktiven Stunde Null nie gab. Er war angewidert von selbstgerechtem Nationalstolz und dem propagandistischen Duktus von Politikern wie Kurt Schumacher. Aber an einem Punkt meldete er Skepsis an: Was bedeutete es, wenn Menschen, die halbverhungert durch zerstörte Städte irrten, auf die Frage, ob es ihnen unter Hitler besser gegangen war, mit Ja antworteten?

Für Dagerman war Hunger ein ebenso schlechter Pädagoge wie Krieg. Er sah, wie die Niederlage der unter dem Hakenkreuz aufgewachsenen Jugend eine "enttäuschte, verhängnisvoll vorurteilsvolle Einstellung zu jeglichem demokratischen Organisationsleben" zur Folge hatte. Demokratie wurde zur Sache der alten Leute, die ihrer eigenen Nazijugend nicht mehr trauten. Den Jungen blieben nur zwei Alternativen: Räuberbanden und Schwarzmarkt.

Die Stärke von Dagermans Texten zeigt sich im genauen Hinsehen. Gegen Worte wie "unbeschreibliches Elend" verwahrt er sich, denn wer hinsieht, kann auch beschreiben. Ihre Relevanz offenbart sich in den Überblendungen ins Hier und Jetzt, die sich bei der Lektüre zwangsläufig einstellen. Ist das tatsächlich dasselbe Land, in dem heute niemand Hunger und jede Stadt Kapazitäten hat, in dem ein Häuflein lautstarker Kraftloser, das beim Satz "Wir schaffen das" panisch um sich schlägt, das Potenzial hat, Staatskrisen auszulösen? Und apropos abgehängte Jugend – wie war das nach dem Mauerfall? Wie wird es nach Fridays for Future sein? Nach Covid? Kann man aus der Geschichte lernen? Wenn, dann mit Texten wie denen von Dagerman – der 1952 seinem Leben ein Ende setzte.

Stig Dagerman: Deutscher Herbst. Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Guggolz Verlag, Berlin 2021. 190 Seiten, 22 Euro.
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