Warum live? Darum!
Selina Cataltepe war noch nie auf einem Konzert. Nach ihrem ersten Mal hat sie klingelnde Ohren – und ein paar scharfe Gedanken.
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"Die sind live echt stark!" – "Das Konzert war Hammer!" – "Ja, ich war auf dem Konzert. Richtig gut!". Irgendwie scheint jeder aus dem Freundeskreis der Lahrer JuZ-Reporterin Selina Cataltepe die Band OK Kid Band schon einmal live gesehen zu haben. Diesmal will sie es selbst wissen und fuhr zum Konzert nach Karlsruhe – auf ihr erstes Live-Konzert überhaupt.
Anfang
Dann ist der Tag gekommen. Wir befinden uns endlich auf dem Weg nach Karlsruhe zu einem Konzert von OK Kid. Wir, das sind ein mit Freunden voll besetztes Auto – vier eingefleischte Konzertgänger und ich, blutige Konzert-Anfängerin. Die für jede Autofahrt obligatorische Aufgabenteilung meistern wir brillant und ohne Absprachen: Einer fährt, einer spielt Navi und DJ, einer schläft, einer sitzt am Handy, einer isst. Es kann also eigentlich gar nichts mehr schief gehen. Eigentlich. Denn die Stimme einer jungen Dame aus dem Radio wagt es, unsere gute Laune mit nur einem Wort zu zerstören: "Stau", und noch bevor wir uns vergewissern können, ob es sich auch wirklich um unsere Strecke handelt, stehen wir auch schon mittendrin.
Zuerst bleiben alle gelassen, aber als wir nach ewigem Stehen und Rollen und Stehen und Rollen und Stehen noch nicht einmal die Hälfte unserer Strecke zurückgelegt haben, werden die ersten Bedenken laut. Schaffen wir es pünktlich? Wie lange spielt die Vorband? Spielt überhaupt eine Vorband? Sollen wir auf der Autobahn bleiben, die Umleitung fahren oder sogar auf den Zug umsteigen?
Rückenschmerzen und Harndrang drücken auf die Stimmung. Wir kämpfen uns vorwärts. Im Schritttempo. Stundenlang. Ich beginne, mich zu fragen, worauf ich mich da eingelassen habe. Mit Knoppers, Caprisonne und Knicklichtern schaffen wir es, uns bei Laune zu halten, dann eeendlich: die Ausfahrt. Und es geht auf einmal viel zu schnell: Parken, laufen, Tickets zeigen und schon stehen wir in einem dunklen, stickigen Raum hinter einem Pulk von etwa 1000 Menschen. Die Vorband singt gerade ihren letzten Takt und verabschiedet sich. Die Menge applaudiert. Puh, zwei Stunden zu spät und doch pünktlich.
Hinterköpfe, Soundchecks,
klebender Boden
Hintergrundmusik düdelt, Menschen betrinken sich und reden alle durcheinander. Ständig drängen sich Leute an mir vorbei, halten dabei ihr Bier hoch und kippen Teile davon auf mich, der Boden klebt, mir ist warm. Ich stehe umringt von Menschen und einer Betonsäule und beginne mich zu fragen, warum Menschen sich das antun? Warum gehen Leute auf Konzerte, zahlen Geld für Tickets? Warum nimmt man lange Autofahrten in Kauf und drängt sich dann mit Hunderten, vielleicht sogar tausenden verschwitzten Körpern auf engsten Raum? Musik ist heutzutage jederzeit überall kostenlos verfügbar, mit den richtigen Geräten auch in jeder beliebigen Lautstärke. Wozu also der Aufwand?
Ich versuche auf Zehenspitzen die Position der Bühne auszumachen, weit und breit Hinterköpfe. Hunderte Hinterköpfe, mit Mützen, mit Zöpfen, mit Glatzen, mit wallenden Locken, einige wenig Arme und Handrücken, das sind die ganz motivierten. Und während der Soundcheck läuft, drängen sich noch drei betrunkene Elefanten lauthals grölend und Bier verschüttend in die nichtexistente Lücke vor mir. Super, noch mehr Hinterköpfe. Noch immer suche ich nach der Schönheit des Ganzen.
Ganz plötzlich
volle Action
Es wird noch ein wenig dunkler. Einige Minuten passiert nichts, dann spielt ein Intro. Sofort jubelt die Masse. Plötzlich wird es hell, eine Stimme setzt ein. Ich beginne zu verstehen. Die Hinterköpfe bewegen sich in meinem Sichtfeld zum Beat, auch die Hände, deren Anzahl sich verzehnfacht hat wippen im Takt auf und ab. Um mich herum tanzen Menschen, einige verhalten, von rechts nach links, andere wild, mit den Armen in der Luft. Alles bewegt sich, alles lacht. 1000 Stimmen singen "Ich weiß wieder wo mein Herz schlägt..."
Warum?
Darum!
Okay, ich hab’s verstanden. Es geht ums Gefühl, ums Tanzen und Mitsingen und darum, in einer Masse von Menschen mit dem gleichen Geschmack die Musik zu feiern. Es geht darum, all die Hinterköpfe zu sehen und zu wissen, dass hinter jedem einzelnen ein Mensch steckt der gerade genauso sehr genießt wie du selbst. Die nächsten zwei Stunden vergehen wie fünf Minuten.
Ein ganz
großer Moment
Wunderbare Musik – zu laut, aber doch perfekt –, alle singen mit, es wird viel gejubelt. Aber nicht nur für ihre Musik ernten OK Kid Applaus. Auch die Aufforderung von Frontsänger Jonas, die Handys doch in der Hosentasche zu lassen und einfach den Moment und die Musik zu genießen und seine Ansage gegen Rassismus, Hass und die AfD zur Ankündigung des gesellschaftskritischen Songs "Gute Menschen" werden laut beklatscht und bejubelt.
Als er nach einem Stagedive ein Lied auf einer Plattform direkt vor meiner Nase zu Ende performt, komme ich sogar auch noch auf den Geschmack ganz vorne mit dabei zu sein. Und dann ist es auch schon wieder vorbei. Schlussapplaus. Alle gehen raus. So viele Lieder haben noch gefehlt, es hätte noch ewig weiter gehen können. Meine Ohren klingeln von der Lautstärke und den tausend Ohrwürmern.
Klingelnde Ohren
und Ohrwürmer
Auf dem Heimweg lachen wir die Leute aus, die auf der anderen Autobahnseite im Stau stehen und ich überlege mir, welche der tausend Aspekte dieses Konzerts denn wohl interessant für jugendliche Leser sein könnten, und erinnere mich nur dunkel daran, mich tatsächlich irgendwann einmal gefragt zu haben, wieso sich Menschen so etwas antun.
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