Sitzen verkürzt das Leben
Wer viel Zeit in Stuhl und Sessel verbringt, verringert damit seine Lebenserwartung. Und kann das noch nicht einmal als fleißiger Sportler wieder ausgleichen.
Jörg Zittlau
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Ein Forscherteam der Universität Umeå hat untersucht, inwieweit sich Sitzen und Sport auf die Länge der so genannten Telomere auswirken, die wie Schnürsenkelkappen die Chromosomen vor Schäden schützen und dadurch der Zelle ihre Regenerationsfähigkeit bewahren. Mit jeder Zellteilung geht ein Stück dieser Kappen verloren, weswegen die Formel gilt: Je kürzer das Telomer, umso kürzer die Lebenserwartung von Zelle und Mensch.
Das Forscherteam teilte knapp 50 bewegungsfaule Senioren in zwei Gruppen ein: Die einen wurden zum Sport bekehrt, die anderen durften weiter als Coach-Potatoe leben. Zu Beginn der Studie und ein halbes Jahr später wurden die Telomerlängen in den Blutzellen bestimmt. Das Ergebnis dieser Untersuchungen fiel, wie Studienleiter Per Sjögren zugeben muss, "völlig anders aus als erwartet". Denn weder Sport noch Bewegung allgemein – gemessen an der Zahl der Schritte – hatten Einfluss auf die Länge der Chromosomenkappen. Es gab nur einen Faktor, der sie wirklich konservierte: nämlich die Zeit, die der betreffende Mensch im Stehen verbrachte. Weswegen Sjögren zu dem Fazit kommt, "dass nicht Bewegungsmangel an sich, sondern die im Sitzen verbrachte Zeit der eigentliche Risikofaktor für das Altern ist".
Bestätigt wird dieser Befund durch eine 14 Jahre währende Beobachtungsstudie, die an 120 000 US-Amerikanern durchgeführt wurde. Darin hatten Männer, die täglich sechs Stunden oder mehr sitzend verbrachten, eine um 20 Prozent höhere Sterberate als Bis-zu-Drei-Stunden-Sitzer. Bei den Frauen betrug der Unterschied sogar 40 Prozent. Und auch hier zeigte sich der Sport außerstande, die negativen Effekte des Sitzens geradezubiegen.
Sitzen verkürzt also das Leben, was natürlich schon die Frage aufwirft, was an ihm eigentlich so schlimm ist, dass sich nicht durch körperliche Bewegung ausgleichen ließe. James Levine von der Mayo-Klinik in Rochester vermutet, dass es den Körper "auf vielfältige Weise unter Stress setzt". Mit allen damit einhergehenden Effekten auf Herz, Kreislauf, Atmung und Hormonhaushalt. Und der Stressfaktor läge darin, so der Endokrinologe weiter, dass Sitzen entwicklungsgeschichtlich zu jung für uns ist.
Der Homo sapiens der Steinzeit saß nämlich noch – wenn überhaupt – im Fersensitz, in dem er es nur einige Minuten lang aushielt. Als dann jedoch im Zuge der Zivilisation spezielle Sitzmöbel eingeführt wurden, konnte er plötzlich extrem lange und extrem passiv sitzen bleiben. Sein Körper und auch seine Psyche waren aber darauf nicht eingestellt, und die Evolution hatte bisher nicht Zeit genug, um an ihnen nachzubessern. "Uns fehlen schlichtweg die Voraussetzungen fürs lange Sitzen", so Levine.
Nichtsdestoweniger kann sich der moderne Mensch durchaus dem Diktat des Sitzens entziehen. Auch ohne Sport. Levine sieht in der "Wieder-Infizierung" des Alltags mit kurzfristigen Steh- oder Bewegungspausen sogar die bessere Antwort auf die Massenträgheit unserer Tage, weil sie in der Summe mehr Auswirkungen auf den Stoffwechsel hat. Bei fünf Minuten Sitzunterbrechung für jede Arbeitsstunde kommt weitaus mehr sitzfreie Zeit heraus als bei einer Stunde Sport pro Woche.
Eine andere Alternative wäre, Stuhl und Sessel gegen ein Stehpult einzutauschen. Dies entlastet nicht nur die Wirbelsäule, sondern mobilisiert auch, wie Dieter Breithecker von der Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung erklärt, "den Kreislauf und die Durchblutung des Gehirns". Was erklärt, warum der Stehpult schon von Napoleon, Goethe und Hemingway genutzt wurde. So richtig alt ist aber von ihnen nur der Autor des "Faust" geworden.