BZ-Interview
Wie es ist, mit einem alkoholkranken Elternteil aufzuwachsen
Wie leben Kinder, deren Eltern Suchtprobleme haben? Armin Schilling (54) fordert, dass darüber mehr gesprochen werden muss.
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Er ist Frührentner, hat unter anderem als Schlosser und Bürokaufmann gearbeitet und engagiert sich im "Freundeskreis alkoholkranker Menschen", der einer der Mitorganisatoren einer Veranstaltung am 8. Juni ist: "Kind … Sucht … Eltern – die Situation von Kindern suchtkranker Eltern". Mit Anja Bochtler sprach Armin Schilling darüber, warum ihn das Thema nicht mehr loslässt.
Schilling: Wenn ich Glück hatte, ließ mich meine Mutter zur Schule gehen. Wenn ich Pech hatte, musste ich zum Sozialamt gehen und fragen, ob sie ihren Unterhalt früher bekommt. Oder sie schickte mich zum Einkaufen in Geschäfte, wo ich anschreiben lassen musste. Umso älter ich wurde, desto mehr schämte ich mich dafür. Um halb zehn morgens saß bei uns oft schon eine Runde Leute am Küchentisch, die meine Mutter zum Trinken brachten. Ich wusste dann nie, wie sie auf mich reagieren würde, ob sie gleich ihre schlechte Laune an mir oder meinen drei Geschwistern rauslassen würde. Und jeden Morgen habe ich ihr beim Erbrechen zusehen müssen. Das war schlimm, ich habe mir Sorgen um sie gemacht, ich wollte ihr helfen. Ich wusste lange nicht, warum sie brechen musste.
BZ: Wann wurde Ihnen klar, dass Ihre Mutter Alkoholikerin ist?
Schilling: Das war mit neun oder zehn Jahren. Da habe ich verstanden, dass überall der Wurm drin ist, weil sie so viel trinkt. Bei uns war immer was los, im negativen Sinn. Nachts lag ich wach und hatte Angst davor, dass mein Stiefvater heimkommt und meine Mutter schlägt. Am allerschlimmsten war es, wenn sich meine Mutter mal wieder die Pulsadern aufgeschnitten hat.
BZ: Wo war Ihr Vater?
Schilling: Als ich fünf Jahre alt war, kam er jahrelang ins Gefängnis, wegen "Unzucht mit Schutzbefohlenen". Ich habe keine Erinnerung an die Zeit davor, aber ich hatte immer furchtbare Angst vor ihm, auch als er im Gefängnis war. Seit meine Mutter mal im Delirium geglaubt hatte, mein Vater sei zurückgekommen, konnte ich abends nicht mehr allein ins Bett gehen, weil ich solche Panik hatte. Diese Angstattacken haben sich verselbständigt, ich habe sie seitdem sehr oft, mein ganzes Leben lang.
um meine Mutter gemacht."
Schilling: Niemand hat sich eingemischt. Auch in der Schule hätte man was merken müssen: Ich kam dort an ohne Schultasche, Stifte, ich hatte überhaupt nichts. Mein Nachbar musste mir Blätter geben, damit ich mitschreiben konnte. Ich habe mich nie getraut, jemandem was zu erzählen, ich habe mich immer nur schrecklich geschämt. Oft habe ich auf der Toilette, wenn ich allein war, gebetet: Lieber Gott, hilf mir doch! Wahrscheinlich wussten die Nachbarn, Verwandten und alle anderen nicht, was sie tun sollten. Oder sie hatten Angst, dass sie Ärger bekommen.
BZ: Gab es für Sie irgendwo Unterstützung?
Schilling: Als ich zehn war, fragte mich meine Lehrerin, ob ich zu den Domsingknaben gehen will, und aus mir wurde ein guter Sänger. Das wurde mein Familienersatz. Aber wenn ich aus den Proben zurück kam, war ich wieder in meiner alten Welt gefangen.
BZ: Das verstärkte sich noch, als Sie sehr früh selbst zu trinken anfingen…
Schilling: Als ich 13 Jahre alt und in meiner Ausbildung zum Beikoch war, gab mir meine Mutter eine Flasche Eierlikör. Ich trank sie und schlief ein, am Morgen musste ich brechen. Als meine Mutter das sah, sagte sie: "Das wird besser, wenn du uns schnell zwei Schnäpse holst." Als Beikoch trank ich dann dauernd zwischen der Arbeit Alkohol. Bald habe ich ihn gebraucht, wie ein Medikament.
BZ: Sie haben zwei Kinder, die jetzt Mitte 30 sind. Auch Ihre Kinder sind mit einem alkoholkranken Elternteil aufgewachsen.
Schilling: Das war ganz schlimm. Vieles in ihrer Kindheit war ähnlich wie bei mir. Auch meine Tochter hatte Angst davor, dass ich abends heimkomme, trinke und auf meine Frau losgehe. Meine Kinder haben mit ansehen müssen, wie ich auf allen Vieren auf die Toilette gekrochen bin und wie ich mich tagelang nicht gewaschen habe. Ich wollte das alles ganz lange nicht wahrhaben.
BZ: Nach vielen Jahren und mehreren Anläufen haben Sie erfolgreich den Absprung geschafft. Können Sie mit Ihren Kindern inzwischen über das alles reden?
Schilling: Meine Tochter sagt, es sei schlimm gewesen, aber sie habe mir vergeben. Mein Sohn spricht nicht darüber. Aber neulich hat er mich in den Arm genommen.
BZ: Was kann und muss man tun, wenn man mitbekommt, dass Kinder in solchen Familien leben?
Schilling: Diese Kinder brauchen ganz viel Liebe, Geborgenheit, Aufmerksamkeit, Sicherheit. Man muss sich um sie kümmern. Wichtig ist, das Jugendamt einzuschalten und andere Fachleute. Und vielleicht sollte man auch die Eltern ansprechen, das hängt von der Situation ab.
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