Pharmabranche
Nebenwirkung der Pille: Südbadenerin verklagt Bayer
Eine Südbadenerin verklagt den Pharmakonzern Bayer auf Schmerzensgeld – weil sie nach Einnahme einer Antibabypille eine lebensgefährliche Thrombose erlitt.
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Es war ausweislich des Blisters ein Samstag. Felicitas Rohrers Plan nahm an diesem dritten Tag des neuen Zyklus eine dramatische Wende. Sie erinnert sich noch daran, wie sie im Schockraum der Universitätsklinik lag und es höchst merkwürdig fand, dass ihr ein fremder Mann den BH mit einer Schere aufschnitt und vom Körper riss. "Komisch, dass ich dieses Bild noch vor Augen habe und auch das Gefühl, das ich dabei hatte", sagt sie sieben Jahre später. "Wer ist das? Was macht der?"
Dass der fremde Mann ihr anschließend den Brustkorb öffnete, hat sie aber nicht mehr mitbekommen. Aber sie weiß, dass er ihr mit seinem entschlossenen Handeln das Leben gerettet hat. Sie sagt, sie werde ihm das nie vergessen. Dann muss sie eine Pause einlegen in der Schilderung dessen, was am Samstag, 11. Juni 2009, passiert ist. Später wird sie sagen, sie könne seit diesem Tag den Tod spüren, wenn er neben sie tritt.
Aber jetzt erst einmal eine kurze Gesprächspause. Sie will sich sammeln. Denn was vor ihr liegt, erfordert Nüchternheit und Disziplin. Denn Felicitas Rohrer hat sich mit einem mächtigen Gegner angelegt, dem jede Sentimentalität fehlt. Außerdem hat der Chemiekonzern Bayer gute Anwälte. Also konzentriert sich die junge Frau mit den wilden blonden Locken, die von einem glitzernden Haarreif gebändigt werden. Sie schluckt kurz, zieht einen Zeigefinger unter dem Auge durch und gibt sich einen Ruck. Ihr Oberkörper richtet sich auf in Kampfstellung. Es geht um Bayer, 119.000 Mitarbeiter, 42,2 Milliarden Euro Jahresumsatz, 8,8 Milliarden Euro Gewinn. "Bayer handelt als Corporate Citizen sozial und ethisch verantwortlich", preist sich das Unternehmen auf seiner Webseite.
Genau daran zweifelt Felicitas Rohrer. Sie hat den Konzern aus Leverkusen, der alle Vorwürfe zurückweist, auf Schmerzensgeld und Schadenersatz verklagt. Am 17. Dezember beginnt der Prozess vor dem Landgericht Waldshut. Es geht um die Frage, ob das Unternehmen die Risiken verschwiegen hat, die mit der Einnahme der Anti-Baby-Pille der vierten Generation – Handelsname Yasminelle, Yasmine, Yaz – verbunden sind. Es geht um Produkte mit dem Wirkstoff Drospirenon, der auch in anderen Pillen enthalten ist.
Der Prozess führt unweigerlich zurück zu jenem 11. Juni vor sechs Jahren. Felicitas Rohrer, die damals noch in Bad Säckingen wohnte, hatte sich für einen Sprachtest angemeldet an der Uni in Freiburg. Es ist Samstag, kurz vor 9 Uhr, kurz vor Testbeginn. Sie ist zum Glück nicht allein, ihr Freund begleitet sie. Er nimmt sie bei der Hand, als ihr schwindelig wird. Er fängt sie auf, als sie auf dem Weg zur Toilette zusammensackt. Er setzt den Notruf ab.
Dann geht es ganz schnell: Notarzt, Rettungswagen, Ohnmacht, Uniklinik, umringt von einer Schar von Ärzten, Ohnmacht, Schockraum, Herzstillstand. In diesem Moment ist Felicitas Rohrer klinisch tot. Dass sie am nächsten Tag auf der Intensivstation wieder die Augen öffnen kann, hat sie dem Einsatz der Ärzte, der Technik und sehr viel Glück zu verdanken – und vor allem, wie sie den Zusammenbruch überstanden hat. Denn wegen des vorübergehenden Herz- und Atemstillstands, der zu einer Unterversorgung des Gehirns führte, befürchteten die Ärzte eine Schädigung des Hirns.
Felicitas Rohrer ist fast ein wenig außer Atem gekommen, sie hält inne, gönnt sich wieder einen Moment Ruhe. Vor ihr liegt der angebrochene Pillenstreifen, dort bleiben die Augen hängen, an dem Schminkkästchen mit Spiegel, das Yasminelle-Kundinnen als Dreingabe bekamen.
Der Freude, überlebt zu haben, folgt die Suche nach den Ursachen. Felicitas Rohrer hat, wie sie erzählt, sehr gesund gelebt, Sport getrieben, nicht geraucht. Sie hat sich im Nachhinein geärgert, dass ihr Hausarzt nicht hellhörig wurde, als sie ihm von ihrer Kurzatmigkeit berichtete, vom Druckschmerz im Brustraum und Ziehen im Bein, von den Schwierigkeiten beim Luftholen. Sie wurde auf eine Rippenfellentzündung behandelt, nahm deswegen Antibiotika.
Dabei hatte sich Wasser in ihrem Bauch und in der Lunge eingelagert, die Venen des linken Beines waren verstopft. Felicitas Rohrer wusste, dass die Einnahme der Pille mit einem gewissen Thromboserisiko verbunden ist. Was sie nicht wusste: Das Risiko ihrer Pille war doppelt so hoch wie bei Pillen der älteren Generation. Felicitas Rohrer ging vom Gegenteil aus, ihre Gleichung lautete: Vierte Generation ist gleich niedriger dosiert und besser verträglich.
Felicitas Rohrer kann charmant und gewinnend lächeln, sie kann freundlich strahlen und hoffnungsvoll blicken. Und man kann darüber fast ihre fast gnadenlose Hartnäckigkeit und Schonungslosigkeit sich selbst gegenüber übersehen. Die wird sichtbar, als sie einem Anfangsverdacht nachgeht. Der erste Schritt in diese Richtung folgte der Erkenntnis, dass sie nicht alleine ist. Sie hat eine Webseite eingerichtet, inzwischen kann sie die Fälle von 478 jungen Frauen dokumentieren, die von Nebenwirkungen der Pille betroffen sind. Junge, bis dahin gesunde Frauen mit Thrombosen, mit Lungenembolien, mit Schlaganfällen. Etliche konnten sich nicht mehr selbst melden: 16, weil sie tot sind, andere, wie Celine, eine junge Frau aus der Schweiz, weil sie seit einer beidseitigen Lungenembolie spastisch gelähmt und schwerstbehindert ist. Celine sitzt im Rollstuhl. 16 Jahre alt war sie, als ihr dies passierte.
Sollte ein Bayer-Anwalt in dem Prozess weiter an der Theorie vom Einzelfall festhalten, Felicitas Rohrer wird ihm jeden einzelnen Namen vorlesen. So wie sie es seit Jahren auf der Hauptversammlung der Bayer-Aktionäre tut. Sie hat dort über die Vereinigung der kritischen Aktionäre ein Rederecht. Sie kommt immer erst spät zu Wort, zu einem Zeitpunkt, wenn die Aktionäre nur noch auf das Büfett warten. Die erfahren dann nebenbei, dass Bayer mit Yasminelle mehr umsetzt als mit dem Dauerläufer Aspirin, im Geschäftsjahr 2015 mehr als 800 Millionen Euro.
Schwieriger wird ein zweiter Nachweis. Felicitas Rohrer greift in das silberne Schminkkästchen, zieht zwei gefaltete Heftchen hervor: die Produktbeschreibung und den Beipackzettel, 48 Seiten lang. In dieser Box bewahrte sie die Pille auf, der Beipackzettel stammt aus dem Jahr 2008. Das Erscheinungsdatum ist wichtig – denn die Neuauflage wurde überarbeitet. Unter "häufige Nebenwirkungen" stehen Hinweise auf Stimmungsschwankungen, Akne und Kopfschmerzen, als "gelegentliche Nebenwirkungen" werden zwischen Depressionen, Hautkribbeln, Fieberbläschen, Schlafstörungen und Schwellungen der Schleimhäute auch Thrombosen und Lungenembolien genannt. Und weiter unten wird als Risikofaktor erwähnt, dass Thrombosen "bei zunehmenden Alter" auftreten können, und "wenn Sie übergewichtig sind". Außerdem erhöhten hoher Blutdruck, hohe Blutfettwerte und Diabetes das Risiko.
Felicitas Rohrer hat den Text wieder und wieder gelesen in den vergangenen Jahren. Sie schüttelt den Kopf. "Nichts davon traf auf mich zu." Ihre Stimme klingt nicht mehr sanft und freundlich, sondern empört, fassungslos und angriffslustig. Zu diesem Zeitpunkt, das weiß sie heute, gab es bereits eine Warnung des Bundesinstituts für Arzneimittel. "Wenn ich gewusst hätte, dass das Thromboserisiko doppelt so hoch ist wie bei herkömmlichen Pillen, ich hätte die niemals genommen." In der Tat ist schwer nachvollziehbar, weshalb eine Pille auf den Markt kommt, deren gewünschter Nutzen, die Verhütung, nicht größer ist als bei eingeführten Produkten. Der einzige Fortschritt sollte sein, dass sie nebenbei das Erscheinungsbild von Haut und Haaren verbessert und es zudem zu keiner Gewichtszunahme kommt. Das Produkt war zeitweise als Aknemittel auf dem Markt. Das Begleitheft verspricht der "lieben Yasminelle-Verwenderin" einen "Smile-Effekt – du fühlst dich wohl in deiner Haut", einen "Feel-Good-Effekt – verbessert dein körperliches und seelisches Befinden" und einen "Figur-Bonus – hilft das Gewicht stabil zu halten". Fazit: "Mit der Yasminelle kannst du das Leben und die Liebe so richtig genießen." Das zielt auf die junge Kundin, auf die Erstanwenderin. Genau die aber sollte diese Pille eher meiden.
Was versprochen wurde, passte in den Lebensplan von Felicitas Rohrer. Der lässt sich in etwa so unterteilen: Kurzfristig wollte sie nicht schwanger werden, mittelfristig ihre berufliche Situation klären und langfristig eine Familie gründen. Wegen der beruflichen Perspektive für die nächsten Jahre war sie an jenem 11. Juni in Freiburg. Sie hatte ihr Studium der Tiermedizin gerade abgeschlossen, sie wollte noch für zwei Jahre einen Journalismus-Studiengang anschließen, dann beruflich Fuß fassen. Für später war fest die Gründung einer Familie vorgesehen. Das war der Plan.
Sie lenkt die Aufmerksamkeit ihres Besuchers mit ihrem Blick auf den Holzboden neben der Couch, wo ein blauer Gummianzug liegt mit Schläuchen, er gleicht einer Mischung aus Taucheranzug und Anglermontur. "Ein Lymphomat", sagt sie kühl. Keine junge Frau sieht gerne so ein Teil in ihrer geschmackvoll eingerichteten Wohnung liegen. Aber es ist eine Platzfrage. Einmal pro Tag muss sie in die Hosenbeine steigen, sich hinlegen und durchwalken lassen. Der Körper braucht Unterstützung von außen, weil die Venen nicht mehr elastisch sind und sich in den Lymphen das Wasser staut. Dies ist auch ein Grund, weshalb sie keine feste Ganztagsstelle annehmen kann. Und als Tierärztin wird sie wegen der körperlichen Belastung wohl nie arbeiten können.
Auch in den USA gab es Todesfälle und schwere Erkrankungen, Bayer hat dort inzwischen 1,9 Milliarden Dollar bezahlt. Mehr als 10.000 Frauen hatten sich dort den Sammelklagen angeschlossen. Stets erfolgte die außergerichtliche Einigung mit der Klägerin vor dem Urteil. So konnte Bayer immer verhindern, dass ein Gericht verbindlich festhalten konnte, dass der Wirkstoff Drospirenon verantwortlich war für die schweren Zwischenfälle. Obwohl es zahlreiche frühe Warnungen und Studien gab, obwohl die heutigen Beipackzettel das Thromboserisiko korrekt angeben – Bayer wehrt sich dagegen, etwas gewusst und verschwiegen zu haben. Felicitas Rohrers Entschädigungsforderung wurde zurückgewiesen. Jetzt will sie es wissen. Auch weil "ich endlich einen Haken unter die Geschichte machen will". Sofern das überhaupt möglich ist.
Die Kinderfrage stellt sich derzeit nicht, zum einen ist die Beziehung über all den Turbulenzen zerbrochen, aber auch, weil sie blutverdünnende Mittel einnehmen muss. Das verträgt sich nicht mit einer Schwangerschaft. Sie weiß, was das bedeuten kann. "Die Sorglosigkeit ist weg." Der Satz steht lange im Raum, er hat nichts Kämpferisches an sich. Sie lebe heute stärker in den Momenten des Tages, langfristige Pläne sind unverbindlicher. Die Lampe im Flur ihrer neuen Wohnung in Willstätt hat auch nach einem Jahr noch keinen Schirm.
Die erste Zulassung einer Antibabypille erfolgte 1960 in den USA, in den folgenden Jahren wurde die "Pille" rasch zum am weitesten verbreiteten Verhütungsmittel in den Industrieländen. Daran änderte auch nichts, dass Papst Paul VI. sie in einer Enzyklika ablehnte. Im Kern beruht die Wirkung auf der Gabe verschiedener Hormone, die Zyklus und Eisprung steuern beziehungsweise das Einnisten einer befruchteten Eizelle verhindern. In den folgenden Jahrzehnten wurden die Hormondosen reduziert und die Kombination variiert. Inzwischen sind Pillen der vierten Generation auf dem Markt, die zum Teil neue Wirkstoffe enthalten.
Die Pille kann als Nebenwirkung Blutgerinnsel auslösen. Dabei ist das Risiko laut Europäischer Arzneimittelagentur bei Pillen der zweiten Generation doppelt so hoch wie bei gleichaltrigen Frauen, die keine Pille nehmen. Bei der Pille der dritten Generation ist das Risiko noch einmal doppelt so hoch wie bei der Pille der zweiten Generation. Rund sechs Millionen Frauen in Deutschland nehmen täglich die Pille.
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