Altersheim als Tabu

Mehr pflegebedürftige Migranten

Anzeige Immer mehr ehemalige Gastarbeiter werden zu Pflegefällen, die oft nicht in klassische Seniorenheime wollen. Wie das trotzdem funktionieren kann, zeigt ein Beispiel in Augsburg.  

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Im Seniorenheim.  | Foto: dpa
Im Seniorenheim. Foto: dpa

Immer mehr ehemalige Gastarbeiter werden zu Pflegefällen. Das stellt die Angehörigen und die Heime vor Herausforderungen, denn die Betroffenen wollen oft nicht in klassische Seniorenheime. Wie dieser Übergang jedoch funktionieren kann, zeigt das Beispiel des interkulturellen Netzwerks in Augsburg.

Jahrelang hat sich die 68-jährige Bisen Sentürk nur zu Hause in ihrer Wohnung aufgehalten. Nach ihrem zweiten Schlaganfall konnte die türkischstämmige Frau kaum noch laufen. Seit sieben Jahren wird sie von ihrer Tochter gepflegt. Ein Altenheim ist keine Alternative für sie. "Bei türkischen Familien ist das in etwa so, wie es in Deutschland noch vor rund 50 Jahren gewesen ist. Wenn es geht, dann werden die Menschen zu Hause gepflegt, und zwar von den Töchtern", sagt Sozialpädagogin Niment Oswald. Nun, da die erste Generation von ehemaligen Gastarbeitern in das pflegebedürftige Alter komme, sei dies ein Problem.

In Augsburg, das zu den Großstädten mit einem der höchsten Migrantenanteile in der Bundesrepublik zählt, hat man das interkulturelle Netz Altenhilfe (Ina) ins Leben gerufen. Es will den ehemaligen Gastarbeitern das deutsche System näher bringen.

Das Projekt vernetzt Senioren und deren Angehörige und unterstützt sie bei Behördengängen und Freizeitgestaltung. Außerdem engagieren sich Migranten und Fachkräfte bei einem Besuchsdienst, es wird ein Frühstückstreff angeboten und es gibt eine stationäre Pflegeeinrichtung speziell für türkischstämmige Senioren. Auch in anderen deutschen Städten mit vielen Migranten sind in den vergangenen Jahren ähnliche Projekte oder spezielle Heime eingerichtet worden.

Sie wollten nicht bleiben

Wie Bisen Sentürk sind viele Ausländer damals nicht gekommen, um zu bleiben. "Doch dann verliebt man sich, heiratet und schnell kann man gar nicht mehr aus Deutschland weg", erklärt Projektleiterin Oswald. Ein halbes Jahrhundert, nachdem die ersten türkischstämmigen Gastarbeiter nach Deutschland gekommen sind, bringt diese Gruppe für die Altenpflege neue Herausforderungen. Beispielsweise verlernten Menschen bei Demenz zunächst ihre Zweitsprache, verstehen also oft nur noch Türkisch. Sie hätten zudem andere Essgewohnheiten, andere Schamgrenzen oder andere religiöse Regeln.

Laut Oswald ist auch ein Problem, dass viele Gastarbeiter in der Vergangenheit nur aus der Ferne mit Alter und Tod in der Familie konfrontiert wurden. "Vom Tod ihrer Großeltern und Eltern erfuhren diese Menschen oft nur am Telefon. Sie sind nun quasi die ersten, die alt werden", erklärt sie. Hinzu komme, dass die Migranten aufgrund der schweren Fabrikarbeit schneller altern als viele Altersgenossen. Zudem erkranken sie öfter an schweren Krankheiten. Mit dem Projekt bereitet sich Augsburg auf die Herausforderungen vor, die die Stadt in den kommenden Jahren erwartet. "Rund 19 Prozent der Bürger in der ehemaligen Textilstadt haben türkische Wurzeln, davon waren 1310 Einwohner 65 Jahre oder älter", erklärt der Sprecher des Statistiklandesamtes Gunnar Loibl. Zwar gibt es einige Gastarbeiter, die im Ruhestand zurück in die Türkei gehen, aber ein Großteil bleibt in Deutschland – so auch für Bisen Sentürk: "Als mein Mann gestorben ist, wollte ich wieder zurück in die Türkei. Aber ich habe hier Kinder und Enkelkinder. Also bin ich geblieben", erzählt sie.

Strukturen für Pflege aufbauen

Die Angebote von Ina richten sich in erster Linie an Türken. Denn in dieser Gruppe gibt es bislang kaum eigene Organisationsstrukturen in der Pflege. Das Projekt lebt vor allem von Mund-zu-Mund-Propaganda. "Klassische Flyer bringen bei der Zielgruppe nichts. Durch das Gastarbeitertum sind sie es nicht gewohnt, dass man sich für sie interessiert", erklärt Oswald. Sie und ihre Mitarbeiterin Nurten Sertkaya haben türkische Wurzeln und finden über die Sprache leichteren Zugang zu den Menschen. "Die Sprache löst Emotionen aus", betont Sertkaya.

Bisen Sentürk ist von dem Projekt begeistert. "Ich freue mich immer auf die Betreuungsgruppe. Meine Tochter muss mir dann die Haare waschen und ich überlege mir, was ich anziehen werde", erzählt sie strahlend. Auch an dem monatlichen Frühstückstreff in einem Mehrgenerationenhaus nimmt die Seniorin teil. "Das ist für mich ein toller Grund, mit meinem Rollator das Haus zu verlassen." Nimet Oswald setzt in den Gruppen auf eine Mischung aus Information und Spaß. Das eine Mal hören die Senioren einen Vortrag über Demenz und das andere Mal backen sie zusammen oder singen gemeinsam. Zudem hat Oswald mit dem Besuchsdienst ein Netz von Ehrenamtlichen aufgebaut. Hier besuchen Freiwillige Senioren in Heimen und zu Hause. So sollen diese vor der Vereinsamung bewahrt werden. An mangelnder Integration lägen die Probleme der früheren Gastarbeiter im Alter nicht, ist sich Nurten Sertkaya sicher. "Wir sind integriert. Aber kulturelle Unterschiede wird es immer geben", betont sie.
Informationen zum Projekt unter mehr.bz/projekt-ina

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